Schweizer Lohnschutz erhält überraschende Unterstützung

Blick nach Europa
Verfasst durch Roland Erne

Das EU-Parlament stärkt den Gewerkschaften den Rücken. Der Ball in Sachen Arbeitnehmerrechte liegt jetzt bei den Arbeitgebern und der EU-Kommission

Anfang Oktober verabschiedete das EU-Parlament seinen Bericht zur anstehenden Revision der bilateralen Verträge zwischen der Schweiz und der EU. Der Parlamentsbericht fordert die EU-Kommission und den Bundesrat auf, «den Schutz von Arbeitnehmerrechten zu stärken, insbesondere hinsichtlich gewerkschaftsfeindlicher Entlassungen und Tarifverhandlungen, um faire und gleiche Marktbedingungen für alle Arbeitskräfte zu schaffen».

Das bedeutet, dass es dem EU-Parlament nicht mehr nur darum geht, «bürokratische Hürden im Bereich der Entsendung von Arbeitskräften zu senken». Dies hatten die EU-Kommission und Lukas Mandl (ÖVP/EVP), EU-Parlamentsberichterstatter zu den Beziehungen zur Schweiz, seit langem gefordert.

Dank den Abänderungsanträgen des österreichischen Sozialdemokraten Andreas Schieder und des deutschen Grünen Reinhard Bütikofer befürwortet erstmals auch das EU-Parlament «flankierende Massnahmen» um «den Schutz hoher sozialer Standards und den wirksamen und diskriminierungsfreien Schutz der Arbeitnehmerrechte zu gewährleisten, indem sie mobilen, entsandten und lokalen Arbeitnehmern gleiches Entgelt für gleiche Arbeit am gleichen Ort zusichern». Zur «Sicherstellung des Schutzes der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer» sollten EU-Kommission und Bundesrat in den anstehenden Verhandlungen deshalb entweder «temporäre» Ausnahmen vom EU-Recht oder ständige «Sicherheitsmassnahmen» in Betracht ziehen, die mit dem EU-Recht vereinbar sind. Dabei sollten die EU-Kommission und der Bundesrat auch den «ständigen Austausch mit den Sozialpartnern der Schweiz» suchen.

Überraschende Unterstützung

Das ist eine Kehrtwende. 2019 lehnte das EU-Parlament in der Debatte um das institutionelle Rahmenabkommen zwischen der EU und der Schweiz alle sozialen Abänderungsanträge zum Lohnschutz ab. Daraufhin scheiterte das Rahmenabkommen im schweizerischen Bundesrat, auch dank dem Widerstand der schweizerischen und europäischen Gewerkschaften. Deshalb müssten auch neoliberale und konservative Politiker einsehen, dass es im EU-Parlament keine Mehrheit mehr gibt für eine harte Linie gegenüber der Schweiz. Zu gross wären die Kosten eines erneuten Scheiterns der anstehenden bilateralen Verhandlungen zwischen der Kom­mission und dem Bundesrat auch für die EU.

Da die Schweiz der «viertgrösste Handelspartner der EU» sei, gab der schwedische IT-Unternehmer und neoliberale EU-Abgeordnete ­Jörgen Warborn der EU-Kommission den folgenden Rat: Sucht «eine pragmatische Lösung für die derzeitigen Probleme, die uns daran hindern, engere Handelsbeziehungen einzugehen». Warborns Parlamentsrede zum EU-Schweiz-Bericht ist bemerkenswert. Sie zeigt, dass auch der «freihandelsfreundlichste» aller EU-Abgeordneten (gemäss Ranking der EU-Zeitung «Politico.eu») von der Kommission mehr Kompromissbereitschaft gegenüber der Schweiz erwartet.

Auch die Rede von Alessandro Panza, italienischem Lega-Abgeordneten und Fraktionssprecher der europäischen Rechtsradikalen, lässt aufhorchen: Er fordert «einen konstruktiven und konkreten Dialog mit der Schweizer Regierung», um «Arbeiter, Unternehmen und Bürger auf beiden Seiten zu schützen». Dies erstaunt, da sich rechtsradikale Politiker sonst kaum für Rechte migrantischer Arbeiterinnen und Arbeiter einsetzen.

Gemeinsame Ziele

Das grössere Verständnis des EU-Parlaments gegenüber der Schweiz hat auch mit der Einsicht zu tun, dass europäische Demokratien besser zusammenhalten müssen. Besonders angesichts des globalen Klimawandels, transnationaler Pandemien sowie des Angriffskriegs Russlands in der Ukraine. Laut dem Mandl-Bericht sollten schweizerische und EU-Bürgerinnen und -Bürger nicht nur im Kampf gegen Sozial­dumping, sondern auch in anderen Bereichen besser zusammenarbeiten (Katastrophenschutz, Kampf gegen Geldwäscherei usw.).

Darüber hinaus forderten alle Fraktionen des EU-Parlaments die Kommission dazu auf, sämtliche EU-Forschungs- und Austauschprogramme wieder für alle Studierenden und Forschenden aus der Schweiz zu öffnen, da der Ausschluss schweizerischer Fachschulen und Universitäten der EU selbst mehr schade als nütze.

Ob der Mandl-Bericht des EU-Parlaments die Gespräche der EU-Kommission mit dem schweizerischen Bundesrat voranbringen wird, wird sich zeigen. Laut Maroš Šefčovič, dem Vizepräsidenten der Kommission und EU-Verhandlungsführer, sind immer noch wichtige Fragen offen: etwa die Frage ­eines «gerechten und dauerhaften» Beitrags zur «Kohäsionspolitik der Union» oder die Rolle des Gerichtshofs der EU im Streitschlichtungsverfahren zwischen der Schweiz und der EU. Laut Šefčovič sei das schwierigste Element der Diskussion weiterhin die Personenfreizügigkeit. Dennoch sei es auch ihm «klar, dass der Erfolg unserer Arbeit (…) von unserer Fähigkeit abhängen wird, diesen sehr wichtigen Bereich zu behandeln und für beide Seiten akzeptable Lösungen zu finden.»

Verpasste Chancen

Ob es zu einer solchen Lösung kommt, wird auch von der schweizerischen Wirtschaft abhängen. Werden Arbeitgeberverband und Economiesuisse und ihre Verbündeten im schweizerischen Parlament bereit sein, EU- und Schweizer Bürgerinnen und Bürger auch im Bereich der Sozialhilfe gleich zu behandeln, wie dies die Unia seit langem fordert? Werden auch bürgerliche Politikerinnen und Politiker in der Schweiz im Ausgleich für allfällig kürzere Anmeldefristen für entsandte Beschäftigte aus der EU die Rechte aller Beschäftigten in der Schweiz stärken, «insbesondere hinsichtlich gewerkschaftsfeindlicher Entlassungen und Tarifverhandlungen», wie dies der Mandl-Bericht fordert?

Gleichzeitig hängt auch sehr viel von der Kompromissbereitschaft der EU-Kommission ab. Laut Nico Lutz, Geschäftsleitungsmitglied der Unia, sieht es hier zurzeit «nicht so gut aus». Statt «pragmatische Lösungen» zu suchen, verlange die EU-Verhandlungsdelegation eine massive Verschlechterung der Spesenregelung für Beschäftigte aus der EU. Laut ihr sollen in die Schweiz entsandte EU-Beschäftigte ihre Spesen künftig nicht mehr nach schweizerischen Regeln erstattet bekommen, sondern nur noch gemäss den Spesensätzen ihres Herkunftslandes, um EU-Firmen auf dem Buckel ihrer Beschäftigten gegenüber schweizerischen Firmen einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen. Dies sei ein absoluter No-Go-Vorschlag für die europäischen Gewerkschaften und alle schweizerischen Sozialpartner. Zudem stünden nach wie vor auch substantielle Forderungen zum Abbau der flankierenden Massnahmen zum Lohnschutz im Raum, die weit über eine Vereinfachung bürokratischer Verfahren hinausreichten.

Zum Glück wandte sich deshalb die slo­wakische EU-Abgeordnete, Katarína Roth Neveďalová, am Schluss der EU-Parlamentsdebatte direkt an Vize-Kommissionspräsident Maroš Šefčovič, mit dem sie als SP-Genossin und Ex-Diplomatin zusammengearbeitet hat:

«Die EU ist ständig auf der Suche nach gleichgesinnten Partnern, denen zum Beispiel die Achtung der Arbeitnehmerrechte, der Verbraucher- und Umweltschutz oder auch die Fairness auf dem Arbeitsmarkt am Herzen liegt. Die EU hat mit der Schweiz viele Gemeinsamkeiten in den Bereichen Wirtschaft, Soziales oder auch Kultur. Bei der Schweiz können wir sicher sein, dass diese Bedingungen eingehalten werden (…). Derzeit halte ich die Beziehungen der EU zur Schweiz für unausgewogen. Wir brauchen uns gegenseitig mehr denn je. Und vielleicht ist es höchste Zeit, dass wir unsere Beziehungen zu diesem Land verstärken. (…) Zum Beispiel (…) bei der Bekämpfung der Geldwäsche oder des Sozialdumpings. Wir haben in der Vergangenheit bereits mehrere solcher Chancen (…) verpasst, unterschätzt oder gar verspielt. Und das sollten wir nicht wiederholen.»

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