20 Jahre Personenfreizügigkeit - mit den Flankierenden Massnahmen gegen Lohndruck und prekäre Arbeit

Blog Daniel Lampart

Vor 20 Jahren trat die Personenfreizügigkeit mit der EU in Kraft. In der Schweizer Migrationspolitik begann ein neues Kapitel. Berufstätige mit Daueraufenthalt erhielten mehr Rechte, wodurch sie besser gegen Missbrauch geschützt waren. Gleichzeitig hat die Schweiz aber auch prekäre Formen der Arbeit erleichtert, welche unsere Löhne und Arbeitsbedingungen gefährden. Firmen aus dem EU-Ländern mit wesentlich tieferen Löhnen konnten ab 2004 ihre Dienstleistungen in der Schweiz bis 90 Tage frei erbringen (Entsendungen). Und die Temporärbüros durften neu Kurz- und KürzestaufenthalterInnen sowie GrenzgängerInnen aus der EU in der Schweiz verleihen. Die Gewerkschaften bezogen deshalb eine klare Position: Sie stimmten der Einführung der Personenfreizügigkeit nur zu, wenn die Löhne geschützt sind. Die Flankierenden Massnahmen wurden eingeführt. Der Bundesrat versprach in der Volksabstimmung einen «umfassenden Schutz vor Lohn- und. Sozialdumping».

In diesen 20 Jahren wurden die Personenfreizügigkeit und die Flankierenden Massnahmen verschiedenen Härtetests ausgesetzt. Nach der Finanzkrise im Jahr 2007 folgte ab 2010 die starke Frankenaufwertung, welche die Entsendungen noch attraktiver machte und enormen Druck auf die Löhne der GrenzgängerInnen ausübte. In der Coronakrise wurde die Personenfreizügigkeit vorübergehend ausgesetzt. 

Die Personenfreizügigkeit und die Flankierenden Massnahmen bestanden diese Härtetests grundsätzlich. Dank den Lohnkontrollen, den Bussen und den anderen Durchsetzungsmassnahmen kamen die Schweizer Löhne nie grossflächig unter Druck. Lohndumping war und ist zwar an den Arbeitsplätzen eine Realität. Jeder fünfte Arbeitgeber bleibt mit zu tiefen Löhnen in den Kontrollen hängen. Aber genereller Lohndruck kann dank den Flankierenden Massnahmen und ihrer präventiven Wirkung verhindert werden.

 

 

Anzahl Arbeitstage von Meldepflichtigen (Entsandte, Selbständige, Temporäre u.a.)

Anteil der Temporärarbeit am gesamten Arbeitsvolumen

Trotz der Kontrollen haben die prekären Arbeitsformen der Entsendungen, der Temporärarbeit sowie der Kürzestaufenthalte seit Einführung der Personenfreizügigkeit stark zugenommen. Dieser Teil der Personenfreizügigkeit wird oft übersehen. Die Entsendungen sind eigentlich eine kleine «Dienstleistungsfreiheit» und keine Personenfreizügigkeit. Hier kommen die Angestellten über ihre Firmen in die Schweiz und sind nicht in der Schweiz angestellt. Sie werden auf dem deutschen oder dem polnischen Arbeitsmarkt rekrutiert und haben entsprechend tiefere Löhne. Gewerkschaftlich können sie nicht organisiert werden, weil sie nur vorübergehend in der Schweiz tätig sind. Dementsprechend grösser ist das Dumpingpotenzial.

Die neuere Arbeitsmarktforschung wirft ein kritisches Licht auf diese Arbeitsformen. Die bisherigen Studien für die Schweiz kamen zum Schluss, dass die Einwanderung über das Freizügigkeitsabkommen vor allem komplementär war. Die Arbeitgeber rekrutierten in der EU, wenn sie in der Schweiz Mühe hatten, die Arbeitskräfte zu finden. Das stimmt im Grossen und Ganzen für gewisse Berufe. Aber die Auswirkungen der Entsendungen und der anderen potenziell prekären Arbeitsformen wurden bisher nicht genau angeschaut. Aktuelle Studien für das Ausland weisen darauf hin, dass Entsendungen eher substitutiv als komplementär sind. Das heisst: Sie stehen in Konkurrenz zum inländischen Arbeitsmarkt. In handwerklichen Berufen («blue collar») Frankreichs oder Belgiens führt die Entsendung zu tieferen Löhnen und zu einer geringeren Beschäftigung von Arbeitnehmenden aus dem Inland. Das sind allerdings zwei Länder, die bei weitem nicht so gute Flankierende Massnahmen haben wie die Schweiz.[1] In der Schweiz werden viel mehr Entsendefirmen kontrolliert. Es gibt Gesamtarbeitsverträge mit Mindestlöhnen. Und die Löhne werden auch durchgesetzt.

Die Schweiz hat die höchsten Löhne in Europa. Und wir sind sprachlich offen wie kein anderes europäisches Land. Die Firmen in den Nachbarländern können in ihrer Landessprache offerieren. Darum brauchen wir den besten Lohnschutz. Und darum müssen wir diesen Lohnschutz auch verteidigen. Die Flankierenden Massnahmen haben aber nach wie vor empfindliche Lücken. Es gibt beispielsweise keine umfassenden Gesamtarbeitsverträge mit Mindestlöhnen im Detailhandel oder im Gartenbau, obwohl auch dort regelmässig Lohnunterbietungen festgestellt werden.

Abschliessend noch eine Bemerkung zu einem anderen Thema. Der so genannte Fachkräftemangel führt dazu, dass die Arbeitgeber aus fast allen Branchen mehr Arbeitskräfte aus den Drittstaaten fordern. Doch in der Schweiz wohnen bereits rund 750'000 Personen aus diesen Drittstaaten. Jede siebte von ihnen ist in einem Hilfsjob tätig. Obwohl viele in ihrem Herkunftsland eine Ausbildung absolviert haben. Im Gewerkschaftsalltag sehen wir regelmässig Migrantinnen und Migranten mit erstaunlichen Fähigkeiten und Ausbildungen, die sich mit Hilfsarbeiten wirtschaftlich über Wasser halten. Das Potenzial dieser Personen wird immer wieder unterschätzt. Die gegenwärtige Diskussion über den Fachkräftemangel wäre eine gute Gelegenheit, diesen Menschen bessere berufliche Chancen zu ermöglichen. Sie brauchen aber Unterstützung. Denn mit ihrem bescheidenen Lohn ist es ihnen nur in wenigen Fällen möglich, eine Ausbildung zu machen oder anerkennen zu lassen. 2018 hat der Bund beispielsweise «Massnahmen zur Förderung des inländischen Arbeitskräftepotenzials» beschlossen Darin gibt es auch Millionenbeiträge an die Kantone, damit Erwachsene auf unbürokratische Weise zu einem Berufsabschluss kommen können. Leider ist das Projekt immer noch nicht vollständig umgesetzt.

 

[1]     In Belgien werden rund 5000 Kontrollen bei Entsendefirmen gemacht. In der Schweiz sind es rund 15'000 Firmenkontrollen bzw. gegen 30'000 Personenkontrollen.

 

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