Für ein soziales Europa, das der heutigen und den künftigen Generationen positive Perspektiven gibt. Rede am Kolloquium des Vereins Zivilgesellschaft am 12. November 2021

Blog Daniel Lampart

Die Amerikaner haben es in gewissem Sinne einfach. Das ging mir durch den Kopf, als ich das neuste Buch des US-amerikanischen Essayisten George Packer „The Last Best Hope“ las. Packer muss bei der Analyse der tiefen Gräben in den USA und ihren Ursachen kaum auf Entwicklungen in anderen Ländern eingehen. Seine Analyse verdichtet sich in einem Satz: „Inequality destroys the sense of shared citizenship, and with it self-government“. Wenn der gesellschaftliche Zusammenhalt verloren geht, geht es auch mit dem Land abwärts. Wie gemäss Packer - mit Verweis auf den französischen Historiker und Widerstandskämpfer Marc Bloch – in Frankreich, welches darum im zweiten Weltkrieg den Kampf gegen Deutschland verloren hätte. Deshalb sei die gesellschaftliche Integration eine Hauptaufgabe für die Zukunft der Vereinigten Staaten.

Als Schweizerinnen und Schweizer in einem kleinen Land mit einer offenen Volkswirtschaft müssen wir uns hingegen immer in grösseren Räumen und im Verhältnis zu anderen orientieren. Im Grossen wie im Kleineren. Und damit möchte ich die Ebene der grossen Fragen verlassen und in den gewerkschaftlichen Alltag wechseln. Denn die internationale Verflechtung ist in der Gewerkschaftsarbeit omnipräsent.

Ich steige mit einem Beispiel ein: Die Mindestlohnkampagne war zwar in der Volksabstimmung eine Niederlage. Doch dank dem politischen Druck im Vorfeld der Abstimmung erhöhten viele Firmen ihre Löhne auf 22 Fr./h. Heute gelten die 22 Fr. im Detailhandel als ein wichtiger Minimalstandard. Doch mit dem Boom im Onlinehandel hat sich eine neue Flanke aufgetan. So liefert Zalando aus Deutschland bald doppelt so viel Kleider und Schuhe in die Schweiz wie H&M hierzulande verkauft. Das aber zu einem wesentlich tieferen Lohn.

Die Gewerkschaften haben in den 1990er-Jahren einen radikalen Kurswechsel vorgenommen. Sie befürworten die Personenfreizügigkeit, wenn die Löhne und die Arbeitsbedingungen konsequent geschützt werden. Das war und ist alles andere als selbsterklärend. Ein Beispiel: Am Montag nach dem Ja zur Masseneinwanderungsinitiative – einer verlorenen Abstimmung – haben uns die schwedische Gewerkschaften angerufen, um uns zum vermeintlichen Abstimmungssieg zu gratulieren ...

Das frühere Kontingentssystem wurde von den Gewerkschaften stark mitgeprägt. Einer meiner Vorgänger beim SGB hat wesentlich bei der Ausarbeitung dieses Systems mitgeholfen. Die Erfahrungen mit dem Kontingentssystem waren aber negativ. Es führte zu prekären Aufenthalts- und Arbeitsbedingungen. Und die Kontrollen der Arbeitgeber waren ungenügend. Zudem waren immer mehr Arbeitskräfte, die aus EU-Ländern in die Schweiz gekommen sind, in den Gewerkschaften organisiert. Irgendwann kam die Realität in den Gewerkschaften an, dass ein Drittel der Arbeitsstunden in der Schweiz von Personen ohne Schweizer Pass geleistet werden. Wer die Interessen der Schweizer Arbeitnehmenden repräsentativ vertreten will, muss oder darf auch die Interessen der Berufstätigen mit ausländischem Pass vertreten.

Der SGB setzte sich für eine stärkere Öffnung der Schweiz und eine intensive Zusammenarbeit in Europa ein. Er gehört zur Minderheit der Institutionen, die Vollmitglied in der EU ist – nämlich im Europäischen Gewerkschaftsbund.

Aus diesen Gründen haben wir auch die Auseinandersetzungen zum Lohnschutz in der EU und die Urteile des EUGH gegen den Lohnschutz von Beginn weg nahe mitverfolgt. Und entsprechende Schlussfolgerungen gezogen.

Es gibt zahlreiche Leute, die uns kritisieren, wir hätten das InstA gekippt. Dazu ist zu sagen: Wir waren seit der Entwicklung des Verhandlungsmandates immer klar; der eigenständige Lohnschutz muss gewährleistet sein. Auf unseren Druck wurde diese Forderung ins Verhandlungsmandat aufgenommen Viele – auch die Verhandlungsdelegation – hat das aber lange nicht ernst genommen.

Viel zu wenig bekannt ist, dass sich hinter der Frage des Lohnschutzes auch ein strukturelles Problem der europäischen Integration verbirgt, welches auch in der EU beispielsweise von Dieter Grimm oder von Martin Höpner thematisiert wurde. Der Binnenmarkt geht sozialen, nationalen Schutzdispositiven vor. Diese Logik geht auf die Entscheide Van Gend&Loos und Costa/Enel 1963/4 zurück. Soziale Massnahmen, die den Binnenmarkt einschränken, sind rechtfertigungsbedürftig. Und das Gemeinschaftsrecht kann direkt angewendet werden und nationales Recht - auch Verfassungen - übersteuern.

Der Schweizer Lohnschutz ist einzigartig in Europa. Er ist zu einem grossen Teil privat – indem er durch die Sozialpartner vollzogen wird. Das Kontrollniveau ist – wegen den hohen Löhnen und dem einfachen Marktzugang für ausländische Firmen hoch. Wir sind Europameister im Lohnschutz – weil wir höchste Löhne haben und den wirksamsten Schutz brauchen. Die Risiken wären enorm gewesen, dass unser Lohnschutz im Kern angegriffen worden wäre. Deshalb die klare SGB-Position.

Wie geht es weiter? Unmittelbar engagiert sich der SGB weiterhin im EGB für ein sozialeres Europa – in der EU und in der Schweiz. Ein wichtiges Thema ist dabei, dass ein Gleichgewicht zwischen dem sozialen Schutze und dem Binnenmarkt hergestellt werden muss.

Der EU-Botschafter in der Schweiz redet eigentlich immer vom EU-Binnenmarkt, wenn er über die EU spricht. Doch diese Reduktion auf den Binnenmarkt ist eine völlige Entstellung des europäischen Projektes. Es ist ein Projekt um die grossen sozialen, ökologischen und friedenspolitischen Fragen zu beantworten. Fragen, die von den einzelnen Nationalstaaten nicht beantwortet werden können. Für die Schweiz ist der Binnenmarktzugang vorteilhaft, aber nicht entscheidend. Wenn man einmal die Personenfreizügigkeit weglässt, bringen die Bilateralen der Schweiz gemäss Studien des Bundes bescheidene 700 Mio. Fr.

Die grossen Entwicklungen weltweit werden auch die Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU prägen. Der Klimawandel oder die Frage der Systemstabilität - wenn alle Daten und IT-Prozesse in Clouds marktmächtiger US-Konzerne ausgelagert werden, oder wenn Mobilität, Wirtschaftsprozesse, Zahlungsverkehr nur noch mit Elektrizität funktionieren - wird ganz Europa beschäftigten.

Es werden wieder Diskussionen über materielle und nicht nur institutionelle Fragen geführt werden. Die Geschichte zeigt, dass die Dynamik zwischen der Schweiz und der EU von materiellen Fortschritten abhängt. Für die Schweiz ist es wichtig, dass sie sich positiv dazu verhält. Für ein soziales Europa, das der heutigen und den künftigen Generationen positive Perspektiven gibt.

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