Die Schweiz liegt mitten in Europa. Unsere Zukunft ist eng mit derjenigen unserer Nachbarländer verknüpft. Zur Bewältigung der grossen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts – zunehmende soziale Ungleichheit und Prekarisierung, Klimanotstand und Verlust der Biodiversität sowie Autoritarismus und Kriege – können wir am besten in enger Kooperation mit unseren Partner*innen beitragen.
Nach dem Scheitern des missratenen Rahmenabkommens braucht es dafür einen neuen Ansatz, der die gemeinsamen Interessen der breiten Bevölkerung in den Vordergrund stellt: Der Ausbau der Kooperation, die Etablierung von Mechanismen des Finanzausgleichs und die Stärkung der Rechte aller Arbeitnehmender ungeachtet ihrer Herkunft ermöglichen einen sozialen Ausgleich bzw. eine Angleichung der Lebensstandards nach oben. Die Schweiz kann und muss sich an diesem neuen Ansatz der europäischen Integration beteiligen.
Paradigmenwechsel nötig
Wir haben den vorliegenden Vertragsentwurf zum Rahmenabkommen abgelehnt, weil er dem Marktzugang von Unternehmen gegenüber dem Schutz der Löhne und der Arbeitsbedingungen den Vorrang gab. Seine Umsetzung hätte die «flankierenden Massnahmen» aufs Spiel gesetzt sowie den Service Public geschwächt. Die sozialen Kräfte in Europa – vom Europäischen Gewerkschaftsbund bis zu den fortschrittlichen Fraktionen im EU-Parlament – haben unser Anliegen unterstützt, auch künftig griffige Massnahmen gegen das Lohndumping zu sichern. Denn eine Aushöhlung des Lohnschutzes hätte den Arbeitnehmenden in der Schweiz unabhängig von ihrer Herkunft geschadet. Und der Kampf gegen das Lohndumping auch innerhalb der EU bleibt das Anliegen aller fortschrittlichen Kräfte.
Gleichzeitig haben wir den nationalkonservativen Angriff auf die Personenfreizügigkeit abgewehrt – an vorderster Front gegen die fremdenfeindliche Begrenzungsinitiative der SVP. Jetzt ist der Weg frei für einen echten Beitrag der Schweiz zu einem sozialen Europa.
Dazu braucht es einen politischen Paradigmenwechsel: Die Schweiz muss ein stabiles Verhältnis zur EU auf die gemeinsamen Interessen der breiten Bevölkerung bauen: Auf soziale Sicherheit und Gerechtigkeit sowie eine mit starken Arbeitnehmendenrechten verbundene Bewegungsfreiheit. Dafür setzen wir uns ein:
Erstens: Die Soziale Säule der Zusammenarbeit stärken
Die EU hat 2017 Grundsätze einer «Europäischen Säule sozialer Rechte» und seither darauf aufbauend zukunftsweisende Rahmengesetze (Richtlinien) beschlossen. Wenn die EU-Mitgliedsstaaten ihnen in der Umsetzung Substanz verleihen und die EU-Instanzen sie bei Rechtsstreitigkeiten als Massstab anerkennen, können sie die Zukunft des europäischen Projektes prägen. Die Schweiz muss ihrerseits dieselben arbeitsrechtlichen Standards einhalten und die Arbeitnehmenden entsprechend schützen.
Wir fordern darum, dass sich die Schweiz zu diesen Prinzipien bekennt und dass sie die wichtigsten Bestimmungen der bestehenden und noch in Erarbeitung stehenden EU-Richtlinien übernimmt, welche diese Prinzipien umsetzen: Die Verbesserung der Mindeststandards bei Arbeitsverträgen, die Durchsetzung von Lohngleichheit, eine Elternzeit, die Förderung der GAV-Abdeckung und die Verpflichtung zur Einhaltung von GAV, Mitbestimmungsrechte in Unternehmen, Schutz bzw. Gleichbehandlung von atypischen Arbeitsverhältnissen (Leiharbeit etc.) sowie die Stärkung der unternehmerischen Sorgfaltspflicht
In welcher Weise sich die Schweiz den europäischen Normen annähert – ob im Rahmen eines Vertragswerkes oder in Form von «Swisslex»-Paketen wie schon in den 90er Jahren – ist sekundär gegenüber ihrem Gehalt: Sie müssen dazu beitragen, die Rechte der Arbeitnehmenden und ihre Lebensbedingungen zu verbessern.
Zweitens: den Solidaritätsbeitrag der Schweiz an die Länder der Europäischen Union verstärken
Auch in der Schweiz gibt es Armut und «Working poor». Dies ist Ausdruck einer zunehmenden sozialen Ungleichheit, die wir vehement bekämpfen. Doch insgesamt ist die Schweiz ein wohlhabendes Land. Nirgends gibt es mehr Superreiche als hier. Die Schweiz muss darum dazu beitragen, das Wohlstandsgefälle in Europa zu mildern. Ein solcher Solidaritätsbeitrag an Europa ist nicht nur fair, sondern auch vorausschauend. Er trägt dazu bei, dass sich ärmere Regionen in Europa entwickeln können, ohne auf einen Wettbewerbsvorteil durch niedrige Lohnkosten zu setzen.
Deshalb fordern wir, dass die Schweiz ihren Beitrag an den Kohäsionsfonds für die Länder Osteuropas deutlich erhöht. Zudem soll sie Kooperationsprojekte im Anschluss an den «EU Recovery plan» zum Wiederaufschwung nach Corona entwickeln und zukunftsweisende Initiativen der EU übernehmen, zum Beispiel die europäische «Jugendgarantie», welche allen Menschen unter 30 Jahren eine Beschäftigung, eine Weiterbildungsmaßnahme, eine Lehrstelle oder einen Ausbildungsplatz sichern will.
Auch im Bereich der Bildung und Forschung sollte die Schweiz grosszügig sein und mehr zu gemeinsamen europäischen Projekten beitragen. Sie muss mehr Mittel zur Verfügung stellen für Austauschstipendien für junge Menschen aus Europa in der Schweiz und umgekehrt.
Drittens: Gleiche soziale Rechte für EU-BürgerInnen, die in der Schweiz arbeiten und leben
Die Einführung der Personenfreizügigkeit verbunden mit starken Arbeitsrechten und Lohn-schutz im Jahr 2002 bedeuteten einen historischen Fortschritt. Wir wollen diese Erfolgsgeschichte fortsetzen, indem wir die Aufenthaltssicherheit, die soziale Absicherung und das Recht auf Familienzusammenführung von EU-BürgerInnen in der Schweiz stärken, insbesondere im Falle von Arbeitslosigkeit. Die Schweiz soll diese wichtigen Elemente der Freizügigkeitsrichtlinie (UBR) übernehmen, ohne den Lohnschutz zu schwächen. EU-BürgerInnen aus den neuen und den alten EU-Staaten dürfen in Bezug auf die Niederlassungsbewilligung zudem nicht länger ungleich behandelt werden.
Verschlechterungen im Ausländergesetz, welche auch Menschen aus der EU betreffen, haben zu neuen Diskriminierungen z.B. beim Zugang zur Sozialhilfe geführt. Das ist nicht akzeptabel. Wir stehen dafür ein, dass für alle Menschen, die in der Schweiz leben und arbeiten, die gleichen Rechte gelten, unabhängig von ihrer Nationalität. Die Schweizer Sozialgesetzgebung muss überprüft und entsprechend angepasst werden. Der Bezug von Sozialleistungen darf die Aufenthaltssicherheit oder Einbürgerungsverfahren nicht beeinträchtigen.
Viertens: Kooperation für mehr Steuergerechtigkeit
Soziale Sicherheit ist nur dann nachhaltig finanzierbar, wenn Menschen und Unternehmen tatsächlich gemäss ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit besteuert werden. Einige Schweizer Kantone betreiben seit Jahrzehnten einen Steuerwettbewerb mit immer tieferen Unternehmenssteuern und bieten sich als günstiger Steuerhafen für Steuerflüchtlinge und Briefkastenfirmen an. Damit muss endlich Schluss sein.
Die Schweiz muss von sich aus einen grossen Schritt auf die EU zugehen und eine enge Absprache der Steuerstandards anstreben. Wir fordern den Bundesrat auf, sich zu einem substanziellen Mindeststeuersatz für die Besteuerung gewinnbringender Unternehmen zu bekennen. Die Schweiz soll sich darauf vorbereiten, einen entsprechenden, von der EU beschlossen Standard zu übernehmen und zudem für die Besteuerung multinationaler Unternehmen dort, wo sie ihre Gewinne erzielen, eintreten. Zudem muss sich die Schweiz zur Kooperation bei der Bekämpfung von Steuerbetrug, Steuerhinterziehung, Geldwäscherei und Wirtschaftskriminalität bekennen und einen entsprechenden Aktionsplan aushandeln.
Die Durchsetzung des Lohnschutzes muss auf die Verhältnisse vor Ort abgestimmt sein
Darüber hinaus soll jedes Land das Recht behalten, weitergehende und für alle Arbeitnehmenden unabhängig von ihrer Herkunft geltende Mindeststandards für Arbeitsbedingungen und Löhne festzulegen und zu ihrer Durchsetzung wirksame Kontrolldispositive einzurichten, die der realen Situation vor Ort angepasst sind. Nur so lässt sich die Nivellierung des Lohnschutzes und der Löhne nach unten verhindern
Die Schweiz muss ihre Zusammenarbeit mit der EU auch in diesem Bereich vertiefen. Mit der formellen Bewerbung um die Mitgliedschaft in der "European Labour Authority" (ELA) und in der tripartiten "Europäischen Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen" (Eurofound) kann die Schweiz einen konkreten Beitrag zur grenzüberschreitenden Gewährleistung von Arbeitsbedingungen und zur Verhinderung von Dumping leisten.
Pierre-Yves Maillard, Präsident SGB
Adrian Wüthrich, Präsident Travail.Suisse
Vania Alleva, Vizepräsidentin SGB und Präsidentin Unia
Arno Kerst, Vizepräsident Travail.Suisse und Präsident Syna