Die heute veröffentlichten Zahlen der Lohnstrukturerhebung 2020 sind besorgniserregend. Bei den Löhnen droht ein verlorenes Jahrzehnt. Die Reallöhne sind unwesentlich höher als 2016. Die Covid-Krise kann nicht als Argument herhalten. Sie hat zwar in einzelnen Branchen vorübergehend zu Schwierigkeiten geführt. Insgesamt waren und sind sowohl Wirtschaftslage als auch Margen der Unternehmen anhaltend gut. In der kommenden Lohnrunde muss diese Lohnlücke geschlossen werden.
In der Vergangenheit wuchsen die Reallöhne im Einklang mit der Arbeitsproduktivität um rund 1 Prozent pro Jahr. Das hat sich leider geändert. Ab Ende 2021 wurde nicht einmal die Teuerung ausglichen. Etwas, was in der Schweizer Sozialpartnerschaft früher eine Selbstverständlichkeit war. In Verbindung mit dem Krankenkassenprämienschub bekunden naheliegenderweise immer mehr Haushalte Mühe, mit dem Geld über die Runden zu kommen.
Nach Branchen betrachtet, gibt es einige besonders besorgniserregende Entwicklungen. Die mittleren Löhne von Arbeitnehmenden in den Post- und Kurierdiensten ohne Kaderfunktion waren 2022 nominal tiefer als 2010. Die Erosion der Arbeitsbedingungen in der Branche ist erschreckend. Ein guter Gesamtarbeitsvertrag ist überfällig. In der Chemie, der Metall- und in der Elektroindustrie gingen die Reallöhne zwischen 2018 und 2022 um mehr als 2 Prozent zurück (ohne Kaderfunktion).
Positiv ist hingegen, dass die Anstrengungen zur Verbesserung der Frauenlöhne in den Betrieben und in den Gesamtarbeitsverträgen Früchte tragen. Der Rückstand der Frauenlöhne auf diejenigen der Männer hat sich weiter verringert. Allerdings ist der mittlere Lohn der Frauen immer noch mehr als fünf Prozent tiefer als derjenige der Männer – bei Berufstätigen ohne Kaderfunktion. Ein grosses Problem ist, dass die Löhne in «Frauenberufen» generell tiefer sind. Hier braucht es besondere Anstrengungen bei der Aufwertung dieser Berufe – beispielsweise über Gesamtarbeitsverträge mit guten Mindestlöhnen in Kitas und Langzeitpflege. In den Kadern sind die Unterschiede mit rund 15 Prozent nicht nur grösser, sondern sie gehen auch weniger schnell zurück. Das überrascht nicht, denn in den Kadern gibt es kaum kollektive Anstrengungen, die Lage zu verbessern.
Der Anteil der Tieflohnstellen hat sich seit der letzten Erhebung im Jahr 2020 nicht verändert. Es mag Leute geben, die das als positiv bezeichnen. Tatsächlich sollte sich die Schweiz ambitiösere Ziele setzen. Die Arbeitgeber haben in den letzten Jahren leider kaum Hand geboten für Verbesserungen. Es gab weder entsprechende Lohnerhöhungen, noch grössere neue Gesamtarbeitsverträge mit wirksamen Mindestlöhnen. Eine grosse GAV-Lücke klafft beispielsweise im Detailhandel. Die Stimmbevölkerung hat zunehmend die Geduld verloren und in staatlichen Mindestlöhnen festgeschrieben, dass die Löhne einigermassen zum Leben reichen müssen.
Rund ein Drittel der Berufstätigen mit einem Tieflohn hat eine abgeschlossene Berufslehre. Das ist ein ungelöstes Problem. Die Lehre reicht in vielen Fällen nicht zum Leben. Vier von zehn Frauen verdienen weniger als 5000 Franken im Monat (Vollzeitäquivalent, 13 Monatslöhne). Die Schweiz wird sich in den nächsten Jahren grundlegende Gedanken machen müssen, wie sie die Berufslehre in die Zukunft führen will. Aus Gewerkschaftssicht ist ein Monatslohn von 5000 Franken mit Lehre das Minimum.