Im Juni hat Bundespräsident Guy Parmelin die Jahreskonferenz 2021 der Internationalen Arbeitsorganisation ILO, der Arbeits-Agentur der UNO, eröffnet. Die Konferenz ist das höchste Organ dieser UN-Organisation. Parmelin verpflichtete sich, den Arbeitnehmerschutz in der Schweiz zu verbessern.
Wir nehmen den Bundespräsidenten beim Wort: immer noch hat die Schweiz die ILO-Empfehlungen zur Verbesserung des Schutzes vor grundrechtsfeindlichen Kündigungen nicht umgesetzt. Die vom Bundesrat vorletztes Jahr beauftrage Mediation unter Franz Steinegger hat noch keine Resultate geliefert.
Der Bundesrat hat sich gegenüber Sozialpartnern und ILO verpflichtet, bis spätestens 2022 eine Gesetzesrevision vorzuschlagen, welche die Vorgaben des Völkerrechts (ILO-Konventionen, EMRK) erfüllt. Die Bringschuld des Bundesrats ist gross: Wird nichts passieren, wird die Schweiz vor dem Normenausschuss der ILO (dem höchsten Arbeitsgericht der UN) wieder ein Thema sein müssen.
Aber auch der Gesundheitsschutz als Teil des Arbeitnehmerschutzes war Thema: in der Schweiz wird viel zu viel, zu lange und zu unregelmässig gearbeitet. Die Arbeitszeiten sind einseitig arbeitgeberfreundlich geregelt, das Schweizer Arbeitsgesetz schon lange kein Vorbild mehr, wenn es um Schutz vor Burnout oder der Vermischung von Freizeit und Arbeitszeit geht. Angesichts von Phänomenen wie Homeoffice und extremen parlamentarischen Vorstössen, welche faktisch die Abschaffung des Arbeitszeit-Gesundheitsschutzes verlangen, nehmen wir Guy Parmelin und den Bundesrat auch hier beim Wort: die Schweiz braucht mehr Arbeitszeit-Gesundheitsschutz, nicht weniger.
Zentrales Thema Corona: mehr Gesundheitsschutz und weniger Prekarität
In Sachen Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz hat die Covid-19-Krise extreme Defizite der Arbeitswelt sichtbar gemacht. Dies hat die ILO in ihren Berichten gezeigt.
Der Arbeitsplatz ist für viele Arbeitnehmende der Ort, wo sie sich mit dem Virus ansteckten. Oft fehlte und fehlt es auch in der Schweiz am elementarsten Schutz, wie viele Arbeitnehmende feststellen mussten. Beim Vollzug des Gesundheitsschutzes liegt in der Schweiz einiges im Argen: die Zahl der Inspektorinnen und somit die Dichte der Inspektionen zum Gesundheitsschutz ist zu tief, um die Umsetzung des Arbeitsgesetzes effektiv zu garantieren.
Die Schweiz hat bis jetzt die ILO-Gesundheitsschutz-Konventionen Nr. 155 nicht unterzeichnet. Und das Arbeitsgesetz gilt nicht für alle Arbeitnehmende, zum Beispiel sind solche in der Landwirtschaft oder Hausangestellte davon ausgenommen. Es ist daher von dringender Wichtigkeit, dass die ILO-Konferenz nächstes Jahr Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz als fundamentale Rechte am Arbeitsplatz bestimmt. Und dass die Schweiz die Dichte der Inspektionen und deren Finanzierung im Bereich des Gesundheitsschutzes verbessert.
Die Pandemie entblösste, wie der Bericht des ILO-Generaldirektors zeigt, die «unerträgliche Brutalität der vielfältigen und steigenden Ungleichheiten unserer Gesellschaften, die oft ihre Wurzel in der Arbeitswelt haben». Dagegen helfen sichere Jobs mit fairen Löhnen und eine umfassende soziale Sicherheit. Die Covid-19-Krise muss eine Chance sein für eine Arbeitswelt mit starkem Gesundheitsschutz, mit Gleichbehandlung und ohne prekäre Arbeitsverhältnisse. Auch und gerade in der Schweiz ist hier noch viel Arbeit nötig.
Frauen und MigrantInnen in der Schweiz besonders betroffen
Am Anfang der Corona-Krise wurden Prekarität und Armut in der Schweiz für alle sichtbar. In reichen Städten wie Genf und Zürich warteten Menschen in langen Schlangen auf die Verteilung von Essenspaketen – ein ungewohntes Bild. Der Staat hatte zwar sofortige Massnahmen eingeleitet, um die schlimmsten Konsequenzen der Bekämpfung der Pandemie einzudämmen. Er hat zur Bewältigung der Pandemie tripartite Strukturen eingebracht und die Sozialpartner, spezifisch auch die Gewerkschaften, immer vorgängig angehört. Das wurde in der ILO-Konferenz gewürdigt.
Doch trotz dieser positiven Massnahmen fielen etliche Arbeitnehmende durch die Maschen des Sozialstaates. Vor den Essenausgaben warteten «Working-Poor», Arbeitnehmende, die kein Recht auf Kurzarbeit oder auf Lohn hatten, so z. B. Reinigungskräfte auf Abruf in Privathaushalten.
Es warten heute noch Migrant*innen ohne geregelten Aufenthalt oder solche mit geregeltem Aufenthalt, die entweder kein Recht auf Arbeitslosenversicherung oder Sozialhilfe oder Angst haben, Sozialhilfe zu beanspruchen, weil sie dadurch ihr Aufenthaltsrecht verlieren könnten. Das Recht auf Unterstützung in Not ist ein Grundrecht in der Schweiz. Aber Migrant*innen die von diesem Recht Gebrauch machen, können deswegen ihre Aufenthaltsbewilligung verlieren. Dies ist inakzeptabel.
Frauen, speziell Migrantinnen, sind besonders betroffen, das zeigen die Berichte der ILO. Dabei ist ihre Arbeit unermesslich wertvoll, vor allen in den systemrelevanten Berufen wie der Pflege. Sie garantieren die Grundversorgung der Gesellschaft und das Funktionieren des Gesundheitssystems. Aber ihre Arbeit endet nicht dort. Zu Hause müssen viele noch die Betreuung der Kinder garantieren und sogar schulische Aufgaben bei Schliessungen von Schulen und Kindergärten übernehmen. Eine enorme Belastung, besonders für Migrantinnen, die oft mangels guter Beherrschung der Schulsprache oder digitalem Know-hows ihre Kinder nicht unterstützen können.
Hier braucht es Verbesserungen, das hat die ILO-Konferenz gezeigt, auch und gerade in der reichen Schweiz, wo die Lohnunterschiede besonders stossend und die Kontrollinstrumente noch viel zu schwach sind.