Die Klatschkonzerte für das Pflegepersonal werden seit bald zwei Jahren von kompletter politischer Realitätsverweigerung begleitet. Daran kann die Bevölkerung am 28. November endlich etwas ändern: Mit einem Ja zur Pflegeinitiative werden die schon lange bestehenden Missstände in der Pflege endlich angegangen – zum Wohle des Personals, und von uns allen.
«Wer einen Pflegeberuf wählt, hat nicht primär den Lohn vor Augen, sondern eher ein Ideal» – so liess sich der Präsident des Zürcher Spitalverbands mitten in der ersten Phase der Coronapandemie in den Medien zitieren. Diese Aussage ist an Geringschätzung gegenüber dem Pflegepersonal natürlich schwer zu überbieten, doch lässt sich dazu auch Folgendes erwidern: Das Ideal ist heute ebenso ein Problem wie der Lohn.
Schon lange vor der Pandemie war der gelebte Berufsalltag in der Pflege weit vom beschworenen Ideal entfernt: In einer im Jahr 2019 beim Pflegepersonal durchgeführten Umfrage gab fast ein Drittel der Befragten an, einmal oder mehrmals berufsbedingt einen Monat oder länger krankgeschrieben gewesen zu sein. Bei ebenfalls jeder dritten Pflegenden wurde die gesetzliche Ruhezeit von elf Stunden zwischen zwei Schichten monatlich mehr als fünfmal gebrochen. Fast alle Befragten gaben zudem an, sich müde und ausgebrannt zu fühlen. Und sie sind einhellig der Meinung, dass der chronische Personalmangel und Spardruck schon längst Auswirkungen auf die Pflegequalität hat.
Tiefe Berufsverweildauer, hohe Abhängigkeit vom Ausland
All dies hat spürbare Konsequenzen: Wer nicht mehr kann, der/die geht. Für Pflegefachpersonen liegt die durchschnittliche Berufsverweildauer heute bei nur gerade 15 Jahren, was im Vergleich zu anderen Berufsgruppen sehr tief ist. Besonders bedenklich und teuer: Jede dritte Pflegende, die den Beruf vorzeitig wieder verlässt, ist jünger als 35 Jahre.
In der Gesundheitsversorgung und Langzeitpflege findet also ein anhaltender Exodus statt, der heute nur durch die Anstellung von Pflegepersonal aus dem Ausland aufgefangen werden kann: Kein westliches Land beschäftigt mehr im Ausland ausgebildete Pflegende als die Schweiz; ein Drittel des gesamten Pflegepersonals hier ist ausländischer Herkunft. Und wir alle wissen: Wären sie nicht hier, stünde der Betrieb in den Heimen und Spitälern still. Was wäre bloss geschehen, hätten etwa Frankreich und Italien während der Hochphase der Pandemie die Grenzen nicht nur für Ferienreisende, sondern auch für die Tausenden GrenzgängerInnen geschlossen? Dringenden Bedarf an dem von ihnen selbst teuer ausgebildeten Pflegepersonal haben unsere Nachbarländer allemal, ganz unabhängig von der Pandemie. Und das wird sich in der Schweiz auch sehr bald bemerkbar machen, denn im europäischen Umland ist man zurzeit überall daran, die Arbeitsbedingungen für das Pflegepersonal stark zu verbessern.
Angebot ungleich Nachfrage: Löhne hoch!
Während also das «Angebot» an Pflegepersonal in der Schweiz eher sinkt, wird die «Nachfrage» über die nächsten Jahrzehnte schon alleine aufgrund der Alterung der Gesellschaft weiter stark zunehmen. Bereits heute sind 11'000 (!) Pflegestellen unbesetzt und bis im Jahr 2029 wird es total 70'000 zusätzliche Pflegende brauchen. Es ist daher völlig klar, dass es in der Schweiz sofort eine massive Ausbildungsoffensive braucht, genau wie dies die Pflegeinitiative fordert. Nur ist ebenso klar, dass die Pflegeberufe kein bisschen an Attraktivität gewinnen, wenn sich nicht endlich auch die Arbeitsbedingungen und Berufsperspektiven verbessern. Und dazu gehört selbstverständlich auch der Lohn: Im Verhältnis zum gesamtwirtschaftlichen Durchschnittslohn verdienen Pflegefachpersonen in keinem europäischen OECD-Land (ausser Lettland und Litauen) weniger als in der Schweiz. Von den PflegeassistentInnen muss hierzulande die Hälfte mit einem Lohn von unter 4000 Franken bei Vollzeitarbeit auskommen. Wenn also Angebot und Nachfrage nicht zusammenpassen, wie oben erwähnt, dann muss sich sinnvollerweise der Preis ändern – im Falle der Pflegeversorgung ist dies der Lohn. Und genau deshalb fordert die Pflegeinitiative zusätzlich zur Ausbildungsoffensive eine angemessene Abgeltung der Pflegeleistungen, anforderungsgerechte Arbeitsbedingungen und berufliche Entwicklungsmöglichkeiten.
Endlich die Hausaufgaben machen
Ein Ja zur Pflegeinitiative ist eine Selbstverständlichkeit. Es ist der klare Auftrag an die Politik, endlich die Hausaufgaben zu machen und längerfristig schweizweit eine gute Pflegeversorgung zu gewährleisten. Nicht mehr und nicht weniger.
Und was die Kosten betrifft, mit denen die Initiative von ihren GegnerInnen gegeisselt wird, verhält es sich in etwa wie mit dem Klima: Die Kosten, nichts zu tun, sind längerfristig ganz einfach viel höher. Wobei wir im Unterschied zur Klimapolitik definitiv nicht damit rechnen können, dass andere für uns bezahlen.