Es wird still, als Antonio erzählt, wie es damals war, vor 15 Jahren: «Wir wollten die Frühpension, wir haben uns dafür gewehrt und dieses Ziel erreicht. Jetzt bin ich froh, dass ich in Frührente bin und das Leben geniessen kann.» Tosender Applaus nach dieser Videosequenz. Damals, das war die grosse Mobilisierung, der nationale Streiktag für Rentenalter 60 auf dem Bau. Heute, das ist der 10. November 2018, ein kalter Novembersamstag. Und Streik ist das Thema, die Klammer, die in den ehemaligen SBB-Werkstätten in Olten über 1400 Menschen versammelt hat.
Der Versammlungsort ist nicht zufällig gewählt: Vor noch längerer Zeit wurde hier gestreikt, und Olten spielte eine zentrale Rolle: Hier tagte das Oltener Aktionskomitee, welches vor genau 100 Jahren für den 12. November 1918 den landesweiten Generalstreik ausgerufen hatte, nachdem vorher Zürich und Bern militärisch besetzt worden waren. Über 250'000 Arbeiterinnen und Arbeiter streikten bis zum 14. November 1918. Gegen Ausbeutung. Für eine sozialere Schweiz. Und für mehr politische Mitsprache. Sie forderten unter anderem den Achtstundentag und das Proporzwahlrecht, das Frauenwahlrecht und eine Alters- und Invalidenversicherung.
Nicht feiern, sondern gedenken, das wollten der Schweizerische Gewerkschaftsbund SGB, die SP Schweiz und die Robert-Grimm-Gesellschaft mit ihrer Veranstaltung. Gedenken des Muts und der Entschlossenheit der Streikenden und ihrer Familien damals, angesichts des militärischen Aufgebots und der äusserst knappen Lebensmittelversorgung. Gedenken der drei jungen Arbeiter, welche am Morgen des letzten Streiktags, bereits nach Ankündigung des Streikendes, in Grenchen von Soldaten erschossen wurden, von hinten, einer mit den Händen in den Hosentaschen. Gedenken der Bedeutung dieses einzigen Generalstreiks in der Geschichte der Schweiz, der am Anfang des 20. Jahrhunderts die entscheidende Weichenstellung in eine moderne, sozialere und gerechtere Schweiz markiert. «Die Linke ist im Herzen der modernen Schweiz», sagt SP-Präsident Christian Levrat. «Und sie ist stark, wenn sie einig ist.»
Denn obwohl der Streik abgebrochen wurde, ohne dass die Forderungen erfüllt worden wären, kam es in seiner Folge zu Fortschritten bei den Arbeitsbedingungen, in der Sozialpolitik und der politischen Partizipation. «Was zunächst eine Niederlage war, verkehrte sich je länger je mehr in einen gewaltigen Erfolg», sagt SGB-Präsident Paul Rechsteiner in seiner Rede. «Einen gewaltigen Erfolg auf der Höhe der gewaltigen Bewegung. Sie veränderte die Schweiz. Die Arbeiterinnen und Arbeiter hatten sich ihre Anerkennung und den Respekt erkämpft.»
«Der Generalstreik schrieb das Programm des Fortschritts für die Schweiz im 20. Jahrhundert», sagte Rechsteiner weiter. Bereits kurz nach dem Landesstreik wurde der Achtstundentag eingeführt. Immer mehr Gesamtarbeitsverträge garantierten anständige Löhne und Arbeitsbedingungen. Etwas länger dauerte es mit bis zur Einführung der AHV dreissig Jahre später. Und die Frauen mussten gar fast 60 Jahre warten, bis sie endlich das Stimmrecht bekamen. – «Stellen wir uns vor, die Schweiz hätte 1918 das Frauenwahlrecht eingeführt! So, wie das die Streikenden gefordert hatten», rief Rechsteiner unter dem Applaus nicht zuletzt der zahlreich anwesenden Frauen. Auch Bundesrätin Simonetta Sommaruga betont in ihrer Rede die Bedeutung der Frauen und die Notwendigkeit des Kampfs gegen Diskriminierung und für Gleichheit.
Bereits vor dem Beginn der Gedenkveranstaltung hatten zahlreiche Frauen lautstark die immer noch fehlende Lohngleichheit eingefordert und auf einen der politischen Höhepunkte des kommenden Jahres aufmerksam gemacht: den geplanten zweiten landesweiten Frauenstreik. Vorne, auf der grossen Leinwand, die durch die Veranstaltung führt, erzählt nun eine der Ikonen der Frauen- und Gewerkschaftsbewegung, wie es damals war, vor mehr als 25 Jahren: Christiane Brunner, ehemalige SMUV-Präsidentin, SGB-Co-Präsidentin, SP-National- und Ständerätin, von den Bürgerlichen verhinderte Bundesrätin, vor allem aber eine der treibenden Kräfte des Frauenstreiks vom 14. Juni 1991. Sie berichtet, wie es nicht nur harte Knochen- und Politarbeit war, diesen Streik auf die Beine zu stellen, sondern dass es auch viele lustvolle, überraschende Momente gab, welche die besondere Qualität dieses Ereignisses ausmachten.
Das Lustvolle, Festliche, Stimmungsvolle muss und soll auch heute nicht zu kurz kommen. Das unterstreichen die Trommelwirbel der Perkussionsgruppe P-Train. Die swingenden Rhythmen des Bläserensembles der SBB Live Band. Und die mal kämpferischen, mal nachdenklichen Lieder und Klänge des Chors Linksdrall. Sie führen durch eine kurzweilige, stimmungs- und würdevolle Veranstaltung.
Eine Veranstaltung, die nicht nur zurückschauen will, sondern die Vergangenheit befragen, schauen was man von ihr mitnehmen kann auf dem Weg zu einer sozialeren, offeneren, gerechteren Gesellschaft. VertreterInnen der Streikbewegungen der letzten Jahre berichten in Videostatements von ihren Erfahrungen. Annick, die stolz ist, am ersten Streik in den Freiburger Spitälern teilgenommen zu haben. Ivan, für den der Streik in den SBB-Werkstätten Bellinzona ein Ausdruck von Stolz, Stärke und Würde war. Larissa, die ihre Trillerpfeife vom sda-Streik täglich erinnert, dass es möglich ist, sich zu wehren und etwas zu bewegen. Gianluca von den Schifffahrtsbetrieben auf dem Lago Maggiore, für den sich im Streik Mut und Würde seiner KollegInnen manifestiert haben. Vincent, der immer noch beeindruckt ist vom Stolz in den Augen der Streikenden bei den Genfer Verkehrsbetrieben. Und sie alle betonen: Ohne den Zusammenhalt, die Entschlossenheit und Beteiligung aller, wäre es nicht gegangen.
Das weiss auch der frühpensionierte Bauarbeiter Antonio. Ebenso wie seine Gewerkschaftschefin Vania Alleva. Die Unia-Präsidentin erinnert in ihrer Rede daran, dass zur Zeit die grösste Mobilisierung seit Jahrzenten läuft, wieder auf dem Bau. Die Baumeister drohen damit, das Rentenalter 60 auf dem Bau zu erhöhen, wenn sie ihren Kahlschlag im Landesmantelvertrag nicht durchsetzen können. Doch eines haben diese gut anderthalb Stunden in Olten gezeigt: Das Rad der Geschichte lässt sich nicht zurückdrehen. Der Kampf für den Fortschritt geht immer weiter und er kann dann Erfolg haben, wenn wir zusammenstehen, zusammen kämpfen. Mit Ausdauer und Engagement. Und mit dem Wissen um die Generationen vor uns, die uns den Weg bereitet haben.