Jede zweite arbeitstätige Person in der Schweiz hat bereits sexuelle oder sexistische Belästigung am Arbeitsplatz erlebt. Besonders betroffen sind Frauen: Fast 60 % berichten von unerwünschten Berührungen, anzüglichen Bemerkungen oder sogar Übergriffen. Die Studie verdeutlicht, dass sexuelle Belästigung überall passieren kann: in Büros, Werkstätten, auf Baustellen und besonders oft in Branchen mit viel Kundenkontakt wie dem Verkauf, dem Gesundheitsbereich oder der Gastronomie. Häufig sind junge Erwerbstätige schon zu Beginn ihres Berufslebens betroffen, auch in der Ausbildung. Viele Betroffene sprechen nicht darüber, was ihnen passiert ist. Oft, weil sie Angst vor negativen Folgen haben oder nicht wissen, was ihre Rechte sind. Für zu viele hat das schwerwiegende Folgen – von Schamgefühlen bis hin zum Jobwechsel. Dabei ist Belästigung nicht nur eine Form von Gewalt. Sie ist kein individuelles Problem, sondern ein strukturelles, und Arbeitgebende tragen die Verantwortung, ihre Mitarbeitenden zu schützen.
Doch die Arbeitgeber werden dieser Verantwortung nicht gerecht. Denn obwohl 95 Prozent der befragten Arbeitgeber behaupten, sexuelle Belästigung ernst zu nehmen, geben mehr als die Hälfte der Betriebe an, dass sexuelle Belästigungen bei ihnen vorkommen. Die «guten Absichten» ihrer Arbeitgeber allein helfen den Betroffenen jedoch nicht. Von sexuellen Belästigungen betroffen sind ausserdem nie nur einzelne Personen. Wenn eine Kollegin ständig sexistische Sprüche hört oder unerwünschte Berührungen erlebt, verschlechtert dies das Arbeitsklima für alle.
Der SGB fordert von den Arbeitgebern, dass sie ihre Verantwortung ernst nehmen und klare Massnahmen ergreifen. Dazu gehört eine verbindliche Nulltoleranzpolitik: Jeder Betrieb muss klare Regeln gegen sexuelle Belästigung einführen und diese konsequent durchsetzen. Arbeitgeber müssen regelmässige Schulungen anbieten, damit Mitarbeitende und Führungskräfte wissen, was sexuelle Belästigung ist, wie sie diese erkennen, wie sie darauf reagieren – und wie sie präventiv für ein respektvolles Arbeitsklima sorgen. Mitarbeitende müssen wissen, dass sie Beschwerden ohne Angst vor Konsequenzen melden können. Dabei kann es helfen, sich an eine Gewerkschaft zu wenden. Denn auch im Einsatz gegen sexuelle Belästigungen lässt sich häufig gemeinsam mehr bewegen.
Neben den betrieblichen Massnahmen fordert der SGB auch gesetzliche Anpassungen. Die Schweiz sollte als wichtiges politisches Signal endlich die ILO-Konvention Nr. 190 ratifizieren. Ausserdem sollten Unternehmen nachweisen müssen, dass sie ihrer Sorgfaltspflicht nachkommen, und bei Verstössen härter belangt werden. Arbeitgeber dürfen ihre Verantwortung nicht abwälzen. Wer nicht handelt, soll Konsequenzen spüren.