Die Corona-Pandemie trifft Migrant*innen besonders hart. Viele wagen nicht, in der Not Sozialhilfe zu beantragen, da dies ihre Aufenthaltssicherheit gefährden kann. Die Staatspolitische Kommission des Nationalrats berät am 27. Mai eine Parlamentarische Initiative, die diese Ungerechtigkeit mindern kann.
Jobverlust, Kurzarbeit, ein Unfall oder eine Krankheit können Menschen aus der Bahn werfen und in eine Notsituation bringen. Als Auffangnetz für solche Situationen kennt die Schweiz das in der Verfassung verankerte Grundrecht auf Unterstützung in der Not. Doch obwohl dieses Grundrecht für alle Bewohner*innen in der Schweiz gilt, sind Migrant*innen faktisch davon ausgeschlossen, selbst wenn sie einen geregelten Aufenthalt in der Schweiz haben. Denn für sie kann Sozialhilfebezug den Verlust ihres Aufenthaltsrechts bewirken.
Seit Inkrafttreten des Ausländer- und Integrationsgesetzes (AIG) im Januar 2019 kann dies sogar Menschen treffen, die in der Schweiz geboren und hier aufgewachsen sind bzw. ihren Lebensmittelpunkt hier haben. So fürchten Migrant*innen, die einen geregelten Aufenthalt haben und Recht auf Sozialhilfe hätten, die Konsequenzen des Bezugs und verzichten darauf, um ihre Heimat nicht zu verlieren.
Diese Situation hat sich in der Corona-Pandemie zugespitzt: Viele Migrant*innen arbeiten in den von Schliessungen besonders betroffenen Branchen mit tiefen Löhnen. Schon die Einbussen aufgrund von Kurzarbeit treffen sie empfindlich, und ein Stellenverlust kann existenzbedrohend sein.
Zwar hat das Staatssekretariat für Migratoin (SEM) eine Weisung herausgegeben, dass Sozialhilfebezug wegen der Coronasituation nicht gemäss AIG bestraft werden soll. Doch die Auslegung der Weisung liegt bei den Kantonen und viele Betroffene befürchten, dass diese den Ermessensspielraum nicht zu ihren Gunsten interpretieren. Anders als Schweizer*innen in der gleichen Situation verzichten sie deshalb darauf, ihr Grundrecht auf Unterstützung in Anspruch zu nehmen.
Migrant*innen tragen wie Menschen mit Schweizer Pass zum Funktionieren der Gesellschaft bei: Sie sind überdurchschnittlich oft in sogenannt systemrelevanten Berufen tätig, zahlen Steuern, engagieren sich in Vereinen oder leisten Freiwilligenarbeit. Doch wenn sie staatliche Unterstützung brauchen, bestraft sie das AIG mit einer Rückstufung oder Verlust der Aufenthaltsbewilligung.
Diese Diskriminierung eines Teils der Bevölkerung ist nicht mit dem Prinzip der Solidarität des Sozialstaats kompatibel. Am 27. Mai kann die Staatspolitische Kommission des Nationalrats (SPK-N) dieser Ungleichbehandlung entgegenwirken: Die parlamentarische Initiative «Armut ist kein Verbrechen» schlägt eine Änderung des AIG vor, die Migrant*innen wieder mehr Aufenthaltssicherheit geben sollen, indem Menschen ohne Schweizer Pass aufgrund von – unverschuldetem – Sozialhilfebezug ihre Bewilligung nicht mehr verlieren sollen, wenn sie sich seit mindestens 10 Jahren ununterbrochen und ordnungsgemäss in der Schweiz aufhalten.
Die Annahme dieser Parlamentarischen Initiative wäre ein wichtiges Zeichen an diejenigen Kreise, die die Grundrechte von Menschen ohne Schweizer Pass noch mehr beschränken und das AIG weiter verschärfen wollen.