«Teilhabe statt Prekarität» ist aus der SGB-Migrationskonferenz vom 4. September 2021 heraus entstanden. Mehr als siebzig Gewerkschafter*innen mit Migrationshintergrund analysierten an diesem Anlass die spezifischen Gefährdungen für Erwerbstätige ohne Schweizer Pass und diskutierten über gewerkschaftspolitische Strategien, wie auch für diese soziale Sicherheit und politische Partizipation erreicht werden kann.
Die Struktur des Dossiers folgt der Gegenüberstellung von Prekarität und Teilhabe. Thema des ersten Teils sind die prekären Lebenslagen, die mit dem Zurücklassen des Herkunftslandes einsetzen. Die versammelten Beiträge zeigen, dass diese Unsicherheit nicht mit dem Überschreiten von Grenzen endet. Viele Migrant*innen leben in der Schweiz weiterhin prekär. Dies in einem doppelten Sinn. Auf dem Arbeitsmarkt sind sie deutlich stärker als die alteingesessene Bevölkerung in Niedriglohnsektoren beschäftigt, haben befristete Stellen oder arbeiten auf Abruf. Für Migrant*innen ist eine solche Prekarität jedoch nicht einfach nur eine temporäre Herausforderung, die es mit Tüchtigkeit und Geschick zu bewältigen gilt. Das Dossier belegt, dass Verschlechterungen des Ausländer- und Integrationsgesetzes (AIG) in den letzten Jahren dazu geführt haben, dass bereits zeitweise Armut für Migrant*innen zu einer existentiellen Gefährdung werden kann: Bei Sozialhilfeabhängigkeit laufen sie Gefahr, ihr Recht auf Aufenthalt zu verlieren und aus der Schweiz weggewiesen zu werden.
Der zweite Teil des Dossiers entwickelt Perspektiven zur Teilhabe. Als Interessenvertretung für alle Erwerbstätigen engagieren sich die Gewerkschaften auch für die Rechte von Migrant*innen. Die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft ist nicht an eine bestimmte Staatsbürgerschaft gekoppelt. Als Kolleg*innen haben wir zwar eine unterschiedliche Herkunft, aber gemeinsame Interessen und Kämpfe. Lohn- und Sozialdumping stellen auch die Löhne und Arbeitsbedingungen der Gruppen infrage, die (noch) nicht unmittelbar betroffen sind. Durch die Artikel des Dossiers zieht sich deshalb die Überzeugung, dass sozialer Fortschritt nur gemeinsam erreichbar ist. Und dieser beinhaltet auch die politische Partizipation aller Menschen in der Schweiz. Was wäre das für eine Demokratie, in der auf Dauer ein grosser Teil der Bevölkerung von Wohlstand und Mitbestimmung ausgeschlossen ist?
Das Dossier steht in einem engen Zusammenhang mit der Arbeit der SGB-Migrationskommission. Es zeigt auf, wie wichtig politische Initiativen wie «Armut ist kein Verbrechen!» und «Aktion Vierviertel» sind. Und es leistet einen Beitrag für kommende Debatten und Vorstösse am SGB-Kongress 2022 sowie darüber hinaus. Als Gewerkschaftsbewegung kämpfen wir für soziale Sicherheit und politische Partizipation von allen Menschen in diesem Land, solange bis wir dieses Ziel erreicht haben.