Kein Zurück zur Diskriminierung

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  • Flankierende Massnahmen und Personenfreizügigkeit
Artikel
Verfasst durch Paul Rechsteiner

Vom Kontingentierungssystem zur Personenfreizügigkeit

Das Ja der Gewerkschaften zur Personenfreizügigkeit plus mehr Arbeitnehmerschutz ist eine historische Errungenschaft.

Nach dem knappen Ja zur sogenannten Masseneinwanderungsinitiative der SVP am 9. Februar droht der Schweiz ein Rückfall in die Zeit vor den bilateralen Verträgen mit der EU. In ein fremdenpolizeilich gesteuertes Kontingentierungsregime. Mit den bilateralen Verträgen übernahm die Schweiz die auf europäischer Ebene geltende Personenfreizügigkeit. Weil es dabei um grundsätzliche Fragestellungen geht, die in ihrer Bedeutung gar nicht überschätzt werden können, werde ich vor den Überlegungen zur Zukunft einen Blick zurück in die Vergangenheit werfen.

Kampfbegriff Überfremdung

Die Schweiz war in langen wirtschaftlichen Prosperitätsphasen stets ein Einwanderungsland: von 1890 bis 1914 und von 1946 bis 1974, allerdings mit grossen Unterschieden.

Zu Beginn der 1890er Jahre wandelte sich die Schweiz erstmals vom Aus- zum Einwanderungsland. Der Anteil der Ausländerinnen und Ausländer an der Wohnbevölkerung erreichte bis 1914 16 Prozent, in den Städten weit mehr.

Bis 1914 galt der Grundsatz des freien Personenverkehrs. Die Gewerkschaften waren internationalistisch orientiert. Um 1900 hatten rund die Hälfte der Gewerkschaftsmitglieder einen ausländischen Pass. Einwanderer wie der im deutschen Breslau geborene Sozialdemokrat Herman Greulich spielten in der Gewerkschaftsbewegung eine zentrale Rolle.

Ebenfalls um 1900 tauchte der Begriff der Überfremdung erstmals in einer Kampfschrift auf. 1914 fand er Eingang in einen behördlichen Bericht, und 1931 wurde der "Grad der Überfremdung" Teil der neuen Schweizer Ausländergesetzgebung. Die reaktionäre Begriffsbildung richtete sich von Anfang an gegen die Arbeiterbewegung, besonders aber nach dem Generalstreik von 1918.

Nach dem Zweiten Weltkrieg waren sowohl die behördliche als auch die gewerkschaftliche Politik völlig anders als jene vor 1914. Die Fremdenpolizei war jetzt das massgebende arbeitsmarktliche Steuerungsinstrument. Die Gewerkschaften verlangten zunächst "Priorität für die einheimischen Arbeitskräfte", im Laufe der 1950er Jahre zunehmend auch Zulassungsbeschränkungen. Dazu forderten sie strikte fremdenpolizeiliche Kontrollen. Gewerkschaftliche Resolutionen und Reden nannten wiederholt das Ziel der "Abwehr der Überfremdung".

In den 1960er Jahren gewannen die rechtsaussen stehenden "Überfremdungsgegner" immer mehr Einfluss. In dieser Zeit setzte sich die vom Gewerkschaftsbund geforderte Kontingentierungspolitik offiziell durch.

Die Gewerkschaften waren in Abstimmungskämpfen eigentlichen Zerreissproben ausgesetzt. Dies vor allem bei der Schwarzenbach-Initiative von 1970 (54 Prozent Nein, bei einer Männer-Stimmbeteiligung von 74 Prozent). Die Gewerkschaften waren hin und her gerissen zwischen der Forderung nach einer Herabsetzung der Kontingente und jener nach der Gleichbehandlung und Integration der ausländischen Arbeitnehmenden. Der arbeitsmarktpolitische Begriff der Überfremdung wurde dabei fast zwangsläufig zu einem kulturellen. Er richtete sich damals vor allem gegen die Süditaliener.

Dieses Hin und Her blieb jahrzehntelang prägend, auch wenn zum Beispiel die 1974 lancierte "Mitenand"-Initiative für eine offenere Migrationspolitik andere Forderungen in die öffentliche Diskussion brachte. So die nach Abschaffung des Saisonnierstatuts.

Erst in den 1990er Jahren sprach sich der Gewerkschaftsbund schliesslich für die Personenfreizügigkeit aus. Allerdings nur in Verbindung mit einem neuen, nichtdiskriminierenden Arbeitnehmerschutz. Vorangegangen war dabei die Baugewerkschaft GBI (heute Teil der Unia) mit ihrem hohen Anteil von Migranten.

Desolidarisierung

Eine umfassende Bewertung des bisherigen fremdenpolizeilichen Systems und seiner Folgen aus gewerkschaftlicher Sicht fehlt bisher. Sicher ist aber, dass das fremdenpolizeilich gesteuerte System in verschiedenen Branchen zu gezielter Unterschichtung und einer krassen Niedriglohnpolitik führte. Die Folge: eine systematische Desolidarisierung, die sich auf alle Arbeitnehmenden auswirkte. Die Diskriminierung der Migranten zog auch die Löhne der Inländer in der Branche nach unten.

Es ist übrigens offen, ob die damalige Kontingentierung die Zuwanderung überhaupt eingeschränkt hat. Die Wanderungsbewegungen folgten auch unter der Kontingentierung unmittelbar der Wirtschaftsentwicklung.

Verheerend waren die gewerkschaftspolitischen Auswirkungen dieser Politik. Die dadurch verursachte Klassenspaltung übersteigt in ihrer Tragweite die parteipolitischen Spaltungen der Arbeiterbewegung bei weitem. Die mit der Kontingentierung verbundene Verschränkung der sozialen mit der nationalen Frage machte die (fremden) Menschen zum Problem statt die Arbeitsbedingungen. Sie trieb einen Keil zwischen die Arbeitnehmenden und untergrub die Solidarität. Doch Solidarität ist eine Voraussetzung, wenn man Verbesserungen für alle Arbeitnehmenden erreichen will.

Die Politik der Kontingentierung setzte Marktgesetze voraus und behauptete, eine Verknappung des "Arbeitskräfteangebotes" helfe allen "Marktteilnehmern". Sie übersah, dass die Arbeitsbedingungen und die Löhne nicht einfach eine Marktfrage sind, sondern vor allem eine Machtfrage. Die zu tiefen Löhne der Frauen sind dafür ein krasses Beispiel.

Es gehört zum gewerkschaftlichen Einmaleins, dass der gemeinsame Kampf für Gesamtarbeitsverträge die Arbeitsbedingungen verbessert. Begreift man die Auseinandersetzung um die Arbeitsbedingungen als Machtfrage, so geht es darum, die Voraussetzungen für diese Auseinandersetzung zu verbessern. Die nationalistische Politik der Kontingentierung war für die Gewerkschaften eine Falle, die sie jahrzehntelang gelähmt hat und zur Gegnerin ihrer Interessen werden liess.

Die Gewerkschaften spielten beim Zustandekommen der bilateralen Verträge (inkl. Personenfreizügigkeit) eine entscheidende Rolle. Aus dem Nein zum EWR von 1992 hatten sie gelernt. Deshalb verlangten sie als Bedingung für das Ja zur Personenfreizügigkeit neue, nichtdiskriminierende Massnahmen zum Schutz der Löhne. Seither gibt es in der Schweiz die sogenannten flankierenden Massnahmen. Zwar konnten nicht alle Gewerkschaftsforderungen durchgesetzt werden. Doch es gelang die Einführung eines in der Schweiz zuvor undenkbaren Systems zur Kontrolle der Arbeitsbedingungen und der Löhne. Bund und Kantone führten sogenannte tripartite Kommissionen ein. Sie beobachten und kontrollieren die Arbeitsbedingungen. Kommt es zu Lohndumping müssen sie einschreiten. Verbessert wurden auch die Möglichkeiten zur sogenannten Allgemeinverbindlicherklärung von Gesamtarbeitsverträgen. Bei wiederholtem Lohndumping kann der Bundesrat einen Gesamtarbeitsvertrag für die ganze Branche gültig erklären. Wo Verträge fehlen, gibt es neu auch die Möglichkeit zur Einführung von staatlichen Mindestlöhnen (sogenannter Normalarbeitsvertrag). Ein prominentes Beispiel dafür sind die neuen nationalen Mindestlöhne in der Hauswirtschaft.

Mehr Gesamtarbeitsverträge

Im widrigen und neoliberal geprägten Umfeld gerät der Arbeitnehmerschutz weltweit und in Europa immer mehr unter Druck und wird abgebaut. In der Schweiz jedoch gelang es uns, den Abdeckungsgrad der Gesamtarbeitsverträge zu verbessern. Es ist den Gewerkschaften über alles gesehen gelungen, mit Gesamtarbeitsverträgen und Mindestlohnkampagnen ein Absinken der tiefen Löhne zu verhindern. Besonders ausgeprägt waren die Fortschritte in früheren Tieflohnbranchen, den einstigen Saisonnierstatutbranchen wie etwa dem Bau. Oder dem Gastgewerbe. Das ist ein Erfolg.

Weniger erfreulich ist und bleibt das Risiko von Lohndumping und ausbeuterischen Arbeitsbedingungen. Sie werden leider nicht überall mit der nötigen Entschiedenheit bekämpft. So hat es etwa der Chef des kantonalzürcherischen Arbeitsamtes, der für den Vollzug der flankierenden Massnahmen zuständig wäre, fertiggebracht, diesen Schutz als "schädliche Überregulierung" zu bezeichnen.

Fatal war vor dem 9. Februar 2014 auch die plötzliche Weigerung des Arbeitgeberverbandes, über die Verbesserung der flankierenden Massnahmen weiterzuverhandeln. Bei früheren Abstimmungen über die Weiterführung der Personenfreizügigkeit hatte man die Bereitschaft, Missstände zu bekämpfen, jeweils mit neuen flankierenden Massnahmen konkret unter Beweis gestellt.

Es muss uns bewusst sein, dass die Gewerkschaften auch in den kommenden Auseinandersetzungen wieder eine Schlüsselrolle spielen können. Denn im Ja zur SVP-Initiative kamen nicht nur eine ausländerfeindliche Grundstimmung zum Ausdruck, sondern auch enorme soziale Ängste. Volksabstimmungen werden letztlich von den arbeitenden Menschen entschieden. Auf soziale Ängste braucht es auch soziale Antworten.

Wir Gewerkschaften treten deshalb für die Weiterführung der bilateralen Verträge ein. Sie bleiben der Schlüssel für ein geregeltes Verhältnis zu Europa. Wir bekämpfen aber auch jede neue Diskriminierung. Die Gewerkschaften sind die wichtigste und stärkste Organisation, in der die Menschen unabhängig von Herkunft, Farbe und Pass organisiert sind. Sie stehen für die reale Schweiz in ihrer Vielfalt. Der Rückfall in eine Kontingentspolitik, ein neues Saisonnierstatut wäre nicht nur volkswirtschaftlich dumm. Er wäre auch gesellschaftlich und politisch ein historischer Rückschritt um Jahrzehnte.

Und es braucht neue soziale Antworten auf die sozialen Probleme. Wir fordern deshalb mehr Lohnschutz. Der Kampf gegen Lohndumping muss endlich überall ernst genommen werden.

Schliesslich braucht es dringend Massnahmen für eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie und solche gegen die Diskriminierung älterer Beschäftigter. Künftige Volksabstimmungen werden sich daran entscheiden, ob diese Antworten auf die sozialen Probleme glaubwürdig sind. Für die Zukunft der Schweiz steht Entscheidendes auf dem Spiel.

Materialien
  • Dieser Text von SGB-Präsident Paul Rechsteiner stammt aus dem work-Leseheft "Baracken, Fremdenhass und versteckte Kinder"
  • Im SGB-Film "Verboten und versteckt – Saisonnierkinder erzählen" berichten Saisonnierkinder von ihrer verlorenen Kindheit.

Zuständig beim SGB

Julia Maisenbacher

Secrétaire centrale

031 377 01 12

julia.maisenbacher(at)sgb.ch
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