Operationssaal mit ÄrztInnen

Foto: © Santiago Nunez / photocase.de

 

Gesundheit: Zuerst soziale Finanzierung, dann richtige Kostendämpfung

  • Gesundheit
Artikel
Verfasst durch Reto Wyss

Der Prämienanstieg ist kein Schicksal

"Die Prämien steigen, weil die Kosten explodieren": Seit Jahren wird in der Schweiz mit diesem angeblichen Naturgesetz ein unfaires Spiel gespielt – zugunsten der Pharma- und Versicherungslobby, zulasten der Versicherten und des Pflegepersonals.

Prämienanstieg 2023 nicht naturgegeben

Die Krankenkassenprämien steigen jährlich im Gleichschritt mit den Ausgaben in der Grundversicherung. Ist dies einmal nicht der Fall, d.h. deckt der Prämienanstieg in einem Jahr den Kostenanstieg im Nachhinein nicht, so kommt es im Folgejahr zu umso stärker steigenden Prämien: Genauso wird es mit den Prämien 2023 geschehen. Steigende Kosten = steigende Prämien: Landauf, landab wird dieser Zusammenhang zum Naturgesetz erklärt, doch das ist er keineswegs. Diese Gleichung ist vielmehr das Produkt unserer Gesetzgebung, welche mit dem Krankenversicherungsgesetz zwar eine Sozialversicherung definiert, deren Finanzierung aber explizit unsozial ausgestaltet hat. Das ist nicht nur wortwörtlich, sondern auch im internationalen Vergleich eine Anomalie: Während in fast allen westlichen OECD-Ländern die Krankenversicherung zu etwa 80 Prozent über einkommensabhängige Beiträge finanziert wird (Steuern oder Lohnbeiträge), sind es in der Schweiz nur circa 30 Prozent (!). Das Gros der Ausgaben wird hierzulande eben durch die Prämien finanziert, also durch Kopfsteuern.

Sofortprogramm für minimal soziale Finanzierung beschlussreif

Weil die Schweiz ein wohlhabendes Land ist, kann sie sich eine exzellente Gesundheitsversorgung leisten – zum Glück! Und weil sie zurzeit stark altert, sind auch die Ausgaben im Bereich der "multimorbiden" Krankheitsfälle und in der Langzeitpflege hoch – selbstverständlich! Alleine diese beiden Faktoren führen aber jährlich zu einer substanziellen Zunahme Gesundheitsausgaben. Und nur schon das ist Erklärung genug, weshalb die Prämienlast der Versicherten niemals ausschliesslich durch die Umsetzung von seit Jahren diskutierten "Kostendämpfungsmassnahmen" auf ein für Haushalte mit tiefen und mittleren Einkommen akzeptables Mass gesenkt werden kann – seien die Massnahmen auch noch so effizient und effektiv. Eine soziale Finanzierung lässt sich nur erreichen, indem man sie gesetzlich beschliesst. Und die Vorlagen dazu liegen heute pfannenfertig auf dem Tisch: So hat der Nationalrat sowohl einen Gegenvorschlag zur Prämienentlastungsinitiative der SP und des SGB beschlossen (+2.2 Milliarden für Prämienverbilligungen) als auch eine Motion überwiesen, gemäss welcher der Bund als akute Sofortmassnahme im kommenden Jahr seine Prämienverbilligungen um weitere 900 Millionen erhöhen würde. Nun liegt es einzig und allein am Ständerat, diese Vorlagen möglichst bald zu verabschieden – es wäre das absolut Mindeste! Und Achtung: Prämienverbilligungen sind nicht Almosen des Staates, es sind ganz einfach die oben erwähnten, europaweit überall üblichen einkommensabhängig finanzierten Mittel für das Gesundheitswesen. Und da die Prämienverbilligungen nur teilweise durch den Bund finanziert werden, stehen auch die Kantone besonders in der Pflicht: Sie müssen nun mit den Budgets 2023 dafür sorgen, dass ihre Ausgaben für Prämienverbilligungen substanziell erhöht werden (nachdem sie von den meisten Kantonen über Jahre hinweg stark zusammengestrichen wurden). Tun sie dies nicht, dann beschliessen sie de facto eine Steuererhöhung für tiefe und mittlere Einkommen (denn mangelnde Prämienverbilligungen führen zu höheren Nettoprämien).

Endlich das Gewinnverbot durchsetzen

Ist dieser Minimalumbau hin zu einer sozialeren Finanzierung der Grundversicherung von Bund und Kantonen erst einmal beschlossene Sache – und dem steht heute nichts im Weg – dann kann, ja dann muss auch wieder über Kostendämpfung gesprochen werden. Und zwar endlich darüber, dass heute an allen Ecken und Enden zulasten der Grundversicherung Gewinn gemacht wird, obwohl dies gesetzlich explizit verboten ist: Privatspitäler sahnen mit selektiven Eingriffen bei lukrativen Fallpauschalen ab und Zusatzversicherungen verdienen dabei mit; Pharmakonzerne blockieren Generika und bringen neue Arzneimittel auf den Markt, für welche sie mit ihrer geballten Lobbymacht fünf- oder gar sechsstellige Preise zulasten der Grundversicherung durchboxen; und Krankenkassen winken – oft auf mindestens einem Auge blind – massenhaft teure Rechnungen durch, anstatt sich zusammen zu tun und endlich substanziell in Prävention und koordinierte Versorgung zu investieren. Über diese Themen, die "grossen Fische", muss gesprochen werden. Und sicher nicht über die Einführung einer Notfallgebühr oder über die Erhöhung der Franchisen.

Und sofort den Pflege-Exodus stoppen

Bleibt eine weitere Baustelle: die Verbesserung der Qualität und der Arbeitsbedingungen in der Pflege. Hierzu fehlen noch nicht einmal die Beschlüsse, den beschlossen wurde bereits vor langer Zeit, und zwar wuchtig: Mit über 60 Prozent sagte die Bevölkerung im November 2021 Ja zur Pflegeinitiative. Geschehen ist seit dann aber eigentlich nichts – ausser, dass sich die Situation in den Spitälern und Pflegeheimen weiter verschlechtert hat. Heute verlassen mehr als 300 Pflegende pro Monat ihren Beruf. Anstatt, dass das Pflegepersonal nach der Coronapandemie endlich mal hätte durchschnaufen können, wird weiter immer mehr Arbeit auf immer weniger Köpfe verteilt, womit sich auch die Versorgungssituation laufend zuspitzt.

Die Pflegeinitiative muss nun endlich umgesetzt werden, und zwar schnell – beginnend mit den von den Verbänden des Pflegepersonals geforderten fünf Sofortmassnahmen. Sonst ist das Schweizer Gesundheitswesen bald zwar immer noch das europaweit teuerste, aber nie und nimmer mehr das beste. Darunter würden neben den Pflegenden bald auch die PatientInnen leiden.

Zuständig beim SGB

Reto Wyss

Zentralsekretär

031 377 01 11

reto.wyss(at)sgb.ch
Reto Wyss
Top