Haarsträubende Angstszenarien in der AHV: Ihre Geschichte, die dazu gehörigen Geschäftsinteressen und die für viele erstaunlich überschaubare Realität

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Blog Daniel Lampart

«Die AHV sitzt auf einer Zeitbombe», schrieb diese Woche die NZZ. Diese Behauptung ist eindeutig falsch. Das wissen alle, die sich einigermassen seriös mit den AHV-Finanzen befassen. Dennoch werden immer wieder Angstszenarien kolportiert. Warum eigentlich? Und würde eine realistische Einschätzung aussehen?

Milliardendefizite in der AHV prognostizierte der Bund in den 2000er-Jahren. Die UBS sprach im Jahr 2019 schon von Billionen. CVP-Ständerat Pirmin Bischof malte im selben Jahr sogar das Schreckgespenst eines möglichen «Konkurses» der AHV an die Wand. Kein Wunder, sind viele Schweizerinnen und Schweizer verunsichert, wie die finanzielle Zukunft der AHV aussieht.

Die Angstszenarien haben sich bisher nicht bewahrheitet. Die AHV schloss beispielsweise das schwierige Corona-Jahr 2020 mit einem Plus von 1941 Millionen Franken ab. Warum geht es der AHV besser als immer wieder gesagt wird? Dafür gibt es drei Erklärungen: Fehler in den Prognosen, wirtschaftliche Eigeninteressen der Prognostiker und die Bereitschaft der Politikerinnen und Politiker, die Probleme der AHV zu lösen, wenn es nötig ist.

Im Jahr 2011 gab der damalige Bundesrat Burkhalter zu, dass die AHV-Prognosen des Bundes Fehler enthielten, welche zu pessimistischen Resultaten führen würden. Der Bund näherte seine Modelle an diejenigen der Gewerkschaften an, in denen die AHV-Zukunft wesentlich weniger düster war. In diesen neuen Prognosen braucht die AHV in den nächsten zehn Jahren ungefähr ein Lohnprozent zusätzlich.

Doch es gibt nach wie vor bedeutende Akteure wie die Grossbanken oder die Versicherungen, die ein grosses Interesse an rabenschwarzen AHV-Prognosen haben. Weil sich dann mehr Leute überlegen, selber mehr für das Alter zu sparen und das Geld bei ihnen anlegen. Und weil die AHV von den hohen zu den tiefen Einkommen umverteilt. Doch wie kommt die UBS eigentlich darauf, dass die AHV ein Billionendefizit hat? Sie macht Prognosen für die AHV-Defizite in den nächsten 100 Jahren und zählt diese zusammen. Doch erstens sind Prognosen über einen so langen Zeitraum mehr als abenteuerlich – wer im Jahre 1922 hätte gewusst, wie die Welt 2022 ausschaut? Zweitens unterschlägt sie, dass auch in den nächsten 100 Jahren auch Geld verdient wird. Wenn man das Billionen-Defizit den künftigen Löhnen gegenüberstellt, schrumpft die Billion auf rund 2 Lohnprozente, die es zur Deckung der künftigen AHV-Defizite eventuell brauchen wird.

Die Schweizer Politik ist besser als ihr Ruf. Jedenfalls hat sie immer wieder Lösungen gefunden, als die AHV effektiv Geld brauchte. 1998 beschlossen National- und Ständerat, dass die AHV ein zusätzliches Mehrwertsteuerprozent erhalten soll. Ab dem Jahr 2019 erhielt die AHV rund 2 Milliarden Franken pro Jahr zusätzlich - nämlich 0.3 Lohnprozente sowie rund 800 Millionen Franken jährlich aus der Bundeskasse. Dank diesen Massnahmen blieb die AHV finanziell im Gleichgewicht.

Ein Konkurs der AHV ist nicht möglich. Sie ist nicht nur eine öffentliche Sozialversicherung. Sondern der Bund muss gemäss der Bundesverfassung «dafür sorgen, dass die eidgenössische Alters‑, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung sowie die berufliche Vorsorge ihren Zweck dauernd erfüllen können» (Art. 111 BV).

Finanzszenarien über einen längeren Zeitraum sind mit grösseren Unsicherheiten verbunden. Darum macht der Bund neuerdings wohl nur noch Voraussagen für 10 Jahre. Die letzten Szenarien bis ins Jahr 2045 stammen aus dem Jahr 2019. Dort kam der Bund zum Schluss, dass die AHV in den 2040er-Jahren mit rund 2.5 Lohnprozenten im Gleichgewicht sei. Mittlerweile hat das Bundesamt für Statistik seine Bevölkerungsszenarien überarbeitet. Künftig soll es weniger Rentnerinnen und Rentner geben als das in den früheren Szenarien angenommen wurde. Die AHV-Ausgaben fallen dadurch um rund 0.7 Lohnprozente geringer aus. Wenn man sich auf Szenarien des Bundes bis 2045 einlassen will, bräuchte die AHV somit bis 2045 noch ungefähr zwei zusätzliche Lohnprozente. Das bei alles andere als überschwänglichen Annahmen zur Produktivitäts- und Arbeitsmarktentwicklung. 

Was danach kommt, liegt weit weg und ist dementsprechend noch schwieriger vorauszusagen. Immerhin sind die künftigen AHV-Rentnerinnen und -Rentner bereits auf der Welt. Nach 2045 würden die 1980er-Jahrgänge pensioniert und die Babyboomer kommen ans Ende ihrer Lebenserwartung. Die finanzielle Lage der AHV wird sich daher eher entspannen als akzentuieren.

Zum Schluss zurück zum Stichwort «Zeitbombe». Wir können die zwei Lohnprozente noch etwas kontextualisieren. Wussten Sie, dass

  • die Löhne der Arbeitnehmenden in den nächsten 20 Jahren um rund 20 Prozent steigen werden – wenn sich die Produktivität gleich entwickelt wie in der jüngeren Vergangenheit? Auch wenn man ein Lohnprozent mehr zahlen müsste (das zweite zahlt der Arbeitgeber), wäre der Nettolohn immer noch 19 Prozent höher als heute (18 Prozent, wenn man das Arbeitgeberprozent auf die Arbeitnehmenden überwälzt).
  • die Beiträge an die Unfallversicherung in der Schweiz seit 2006 von 2.6 auf 2 Prozent gesunken sind? Und die ALV-Beiträge seit 2011 von 3 auf 2.2 Prozent?
  • die Pensionskassen-Beitragssätze seit dem Jahr 2005 um 2.3 Lohnprozente gestiegen sind?
  • die Beiträge an die Arbeitslosenversicherung von 1992 bis 1995 von 0.4 auf 3 Lohnprozente erhöht wurden?
  • Deutschland auf Anfang 2021 den MWSt-Satz von 16 auf 19 Prozent erhöht hat (nach einer Senkung im Sommer 2020)?

Zuständig beim SGB

Gabriela Medici

stv. Sekretariatsleiterin

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Gabriela Medici
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