Die Diskussionen über die Regulierung in der Schweiz scheinen einen neuen intellektuellen Tiefpunkt erreicht zu haben. Es ist absurd, aber leider wahr: Das Parlament als oberster Regulator will ein Gesetz, damit es weniger reguliert. Der Bundesrat schlägt nun eine «Regulierungsbremse» vor. Die Analyse zeigt: Das ist eine Schnapsidee.
Die Frage der Regulierungen ist völlig unterbelichtet. Denn gerade sogenannte Deregulierungs- und Liberalisierungsprojekte haben in den letzten 20 Jahren zu mehr Regulierung geführt. Die «Teilmarktöffnung» der Schweizer Stromversorgung hat beispielweise eine Regulierungsflut ausgelöst, die nur noch von Spezialisten überblickt wird. Vor dieser «Öffnung» gab es relativ wenige Erlasse – weil es gar nicht nötig war. Die Kantone und Gemeinden hatten ihre Betriebe, denen sie einen einfachen Versorgungsauftrag. Die «Liberalisierung» erforderte hingegen das Stromversorgungsgesetz (16 Seiten) und die Verordnung dazu (24 Seiten). Danach entstand die Regulierungsbehörde Elcom mit eigenem Reglement (6 Seiten), welche wiederum viele technische Weisungen und andere Erlasse (rund 100 Seiten) verfasste. Ähnliches gilt für die Bankenregulierung. Statt ein paar einfache, robuste Regulierungen einzuführen, haben die Wünsche der Banken nach Ausnahmen und Sonderregelungen ein unübersichtliches Regulierungsdickicht hervorgebracht, welches sich dann in der Finanzkrise von 2008 als unbrauchbar oder sogar kontraproduktiv erwiesen hat.
Die Wirtschaftsgeschichte zeigt, wie entscheidend gute Regulierungen und ihre Durchsetzung für den Wohlstand sind. Über allem steht die soziale Frage. Durch den Arbeitnehmerschutz, die Sozialversicherungen und das Bildungswesen wurde nicht nur der Verelendung von grossen Teilen der Bevölkerung entgegengewirkt. Sondern diese bilden auch die Basis der modernen Gesellschaften mit ihren Entfaltungsmöglichkeiten und ihrem enormen Wissen. Ohne wirksame Regulierungen lassen sich auch die künftigen epochalen Herausforderungen wie die Klimaerwärmung unmöglich bewältigen. Regulierungen haben zweifellos ihre Kosten, aber sie haben – wenn sie gut sind – einen enormen Nutzen.
Aus der Geschichte und den Erfahrungen mit den Regulierungen liesse sich somit vieles Lernen. Doch der Bundesrat schlägt eine «Regulierungsbremse» vor, die dem nicht Rechnung trägt. Diese «Regulierungsbremse» verlangt Folgendes: Wenn ein Bundesgesetz oder ein völkerrechtlicher Vertrag für mehr als 10'000 Unternehmen höhere Regulierungskosten verursacht oder die totalen Regulierungskosten über 100 Millionen Franken liegen, braucht es für die Genehmigung eine Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder beider Räte. Damit würden kurzfristige Unternehmensinteressen höher gewichtet als soziale, gesellschaftliche oder ökologische Ziele. Weil bei einem gewissen Regulierungsaufwand nicht nur das relative, sondern auch das absolute Mehr erreicht werden muss. Wäre die Regulierungsbremse im 19. Jahrhundert eingeführt worden, hätten sich die westlichen Gesellschaften kaum so entwickeln können, wie sie das getan haben.
Das Konzept der Regulierungskosten ist methodisch völlig unscharf. Es gibt enorme Messprobleme, was auch der Bundesrat festgestellt hat. Die «Regulierungsbremse» kann auch Innovationen behindern. Denn was für einzelne Unternehmen zu höheren Kosten führt, kann gesamtwirtschaftlich positiv sein. Fortschrittliche Gesetze können bei den Firmen einen höheren vorübergehenden Umsetzungsaufwand erfordern. Wenn nur die unmittelbaren Regulierungskosten für die bestehenden Firmen angeschaut werden, ergibt das ein verzerrtes Bild, was zu Fehlentscheiden führen kann. Und: Wer wenig Regulierungen will, sollte auf eine Stärkung des Service-Public setzen.