Die neue Verteilungsanalyse des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds zeigt: Die Kaufkraft-Krise spitzt sich zu. Hohe Teuerung, Prämienschock und stagnierende Löhne, lassen den Arbeitnehmenden immer weniger zum Leben. Die Probleme sind nicht neu, aber das Ausmass hat sich verschlimmert. Wer in diesem Land arbeitet, verdient einen fairen Lohn. Konkret heisst das: keine Löhne unter 4’500 Franken und mit einer Lehre mindestens 5'000 Franken. In der aktuellen Lohnrunde braucht es den vollen Teuerungsausgleich und reale Verbesserungen; in einigen Branchen haben die Gewerkschaften dies bereits ausgehandelt. Andere Arbeitgeber wollen sich trotz gutem Geschäftsgang aus der Verantwortung stehlen. Das ist nicht akzeptabel.
Die finanzielle Situation der Menschen mit tieferen und mittleren Einkommen ist auch in der Schweiz zunehmend angespannt. Die Teuerung läuft den Löhnen davon, die Energiekosten steigen und im nächsten Jahr kommt der Krankenkassen-Prämienschock. Die Einschätzung der finanziellen Lage war in der Konsumentenstimmungsumfrage des Seco noch nie so schlecht wie jetzt. Die Kaufkraft-Krise für Normalverdiener-Familien hat sich über Jahre aufgebaut, jetzt spitzt sich das Problem rasch zu.
Bereits in den Jahren 2000 bis 2020 hat die Steuer- und Abgabenpolitik die hohen Einkommen begünstigt, vor allem über Steuersenkungen. Bei den unteren und mittleren Einkommen schaute die Politik weg. Die Lohnfortschritte wurden durch die ungerechte Steuer- und Abgabenpolitik zu einem grossen Teil zunichtegemacht, vor allem durch die Kopf-Prämien bei der Krankenkasse. Die Prämienbelastung liegt für eine Normalverdiener-Familie mit 2 Kindern bei knapp 14 Prozent des Nettoeinkommens. Die Familie zahlt 2023 erstmals über 1’000 Franken Prämie pro Monat. Die TopverdienerInnen können den Prämienanstieg von mehreren hundert Franken besser verkraften. Dennoch erhalten ausgerechnet sie eine finanzielle Entlastung. Weil das Solidaritätsprozent bei der Arbeitslosenversicherung auf Löhnen über 148'200 Franken wegfällt, zahlen sie unter dem Strich weniger Sozialversicherungsbeiträge. Zudem profitieren sie von höheren Löhnen. Denn die Lohnschere hat sich wieder geöffnet.
Zu tiefe Löhne sind in verschiedenen Berufen und Branchen ein grösseres Problem. Ein Viertel aller Berufstätigen mit einer Lehre verdient weniger als 5’000 Franken im Monat (bei Vollzeitstelle). Darunter BäckerInnen, VerkäuferInnen, aber auch HochbauzeichnerInnen. Real sind die Löhne in dieser Gruppe zwischen 2016 und 2020 sogar gesunken. Auch bei den unteren Löhnen hat sich die Lage verschlechtert. Der Tieflohnsektor in der reichen Schweiz wächst wieder. Der Anteil der Tieflohnstellen ist seit 2014 von 10.2 auf 10.5 Prozent angestiegen. Konkret heisst das, dass rund 500'000 Berufstätige einen Lohn von weniger als 4’500 Franken pro Monat haben (bei Vollzeit). Rund ein Drittel von ihnen hat eine Lehre abgeschlossen. Offensichtlich garantiert auch eine drei- oder vierjährige Ausbildung keinen Schutz mehr vor Dumpinglöhnen.
Positiv ist, dass die Gewerkschaften in der Lohnrunde 2022/23 bisher einen beträchtlichen Teil ihrer Ziele erreicht haben. Die Lohnabschlüsse enthalten bisher mehrheitlich den Teuerungsausgleich und darüber hinaus teilweise noch eine Reallohnerhöhung. Doch es stehen weiter anspruchsvolle Verhandlungen an. So wollen beispielsweise zahlreiche Kantone ihrem Personal keinen Teuerungsausgleich gewähren. Auch im Detailhandel verlaufen die Verhandlungen unbefriedigend.
Die Lohn- und Einkommensprobleme der Berufstätigen in der Schweiz müssen gelöst werden. Der SGB fordert deshalb:
- Wer eine Lehre abgeschlossen hat, soll mindestens 5’000 Franken pro Monat verdienen.
- Niemand soll einen Lohn von unter 4’500 Franken haben. Das ist der Richtwert der gewerkschaftlichen Lohnpolitik. Unmittelbares Ziel oder absolutes Minimum ist ein Lohn von 4’000 Franken (x13).
- In der Lohnrunde 2022/23 braucht es den Teuerungsausgleich und Reallohnerhöhungen. Die Geschäftslage der Firmen ist gut bis sehr gut. Und Lohnerhöhungen für die Arbeitnehmenden sind überfällig.
- Der Prämienschock erfordert eine substanzielle Erhöhung der Prämienverbilligungen. Der SGB fordert den Ständerat auf, wie der Nationalrat eine Milliarde Franken zusätzlich zu sprechen. Die Kantone müssen die Verbilligungen mindestens im Ausmass des Prämienwachstums erhöhen.