Gemäss Bundesverfassung haben sich Bund und Kantone dafür einzusetzen, dass "jede Person die für ihre Gesundheit notwendige Pflege erhält" (Art. 41). Mit einer Änderung der Regelung betreffend nichtbezahlte Prämien hat der Bund jedoch im Jahr 2010 die Voraussetzung für eine bis heute andauernde, gravierende Verletzung dieses Verfassungsartikels geschaffen. Denn seit dann sind die Kantone ermächtigt, Versicherte, die ihrer Prämienpflicht nicht nachkommen, auf einer Liste zu erfassen und ihren Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen auf nicht näher definierte "Notfallbehandlungen" zu beschränken. Die ganz konkreten Auswirkungen dieser Neuregelung haben zu einigen medialen Schlagzeilen geführt, wie etwa zum Fall eines fünfzigjährigen HIV-positiven Patienten im Kanton Graubünden, welchem im Jahr 2018 von der Krankenkasse die Finanzierung der notwendigen Medikamente verweigert wurde, weil er mit der Zahlung seiner Prämien im Verzug war. Eine Notfallsituation war nach Meinung der Kasse nicht gegeben, worauf der Mann an Begleiterkrankungen von AIDS verstarb. Sein Todesurteil war nicht das HI-Virus, sondern letztlich die schwarze Liste.
Nicht zahlungsunwillig, zahlungsunfähig!
Bei der Einführung der schwarzen Listen ging man von der abwegigen Idee aus, die betroffenen Versicherten seien zahlungsunwillig und könnten mit dieser Massnahme zur Begleichung ihrer Rechnungen gebracht werden. Dass das Problem allerdings nicht die Zahlungsunwilligkeit, sondern vielmehr die immer weiter verbreitete Zahlungsunfähigkeit der Versicherten ist, dürfte heute hinreichend klar sein: Gesamtschweizerisch wurden im Jahr 2019 421'000 Versicherte aufgrund von Zahlungsausständen für OKP-Prämien betrieben. Und gemäss einer Studie der Zürcher Stadtammänner sind gesamthaft bereits ein Drittel (!) aller Betreibungen den Krankenkassenprämien geschuldet.
Das Schweizer Gesundheitswesen ist falsch und unsolidarisch finanziert. Während im europäischen Umland die Grundversicherung grösstenteils über einkommensabhängige Beiträge finanziert wird, machen in der Schweiz die Kopfprämien und Selbstzahlungen den weitaus grössten Anteil aus. Dieses System treibt Haushalte mit tiefen und mittleren Einkommen geradezu in die Zahlungsunfähigkeit. Und dies trotz parallel existierender Prämienverbilligungen. Denn die Prämienverbilligungen werden von den Kantonen seit Jahren fast überall gekürzt. Und aus den entsprechenden Budgetposten werden zudem immer mehr Mittel zur Finanzierung ebendieser Zahlungsausstände abgezweigt, was völlig paradox ist: Reduziert ein Kanton die Prämienverbilligungen, um aus dem gesamten, unveränderten Budgetposten die zunehmenden Aufwände für Zahlungsausstände zu finanzieren (so mehrfach geschehen), so schafft er ganz einfach die Voraussetzungen für noch mehr Zahlungsausstände. Es wird also ein Teufelskreis angeheizt, unter dem die betroffenen Versicherten am meisten leiden.
Ein Sozialziel anstelle der schwarzen Listen!
Es ist eine traurige Tatsache, dass in den Eidgenössischen Räten letztlich erst nach Bekanntwerden des oben beschriebenen schwerwiegenden Falles ein Umdenken stattgefunden hat, welches nun in der Eröffnung einer Vernehmlassung zur Abschaffung der schwarzen Listen mündete, Im Rahmen dieser Revision müssen aber auch die Krankenkassen an die kurze Leine genommen werden. Denn es darf nicht sein, dass einige von ihnen an Versicherten mit Zahlungsschwierigkeiten sogar noch verdienen. Dies tun sie heute etwa durch das Verrechnen horrender "Gebühren wegen Verzugsschaden", welche sie auf jeder Prämienrechnung einzeln erheben. Darüber hinaus werden ihnen von den Kantonen heute sowieso mindestens 85% Prozent der Zahlungsausstände rückerstattet.
Langfristig entscheidender und über die vorliegende Revision hinausgehend wäre aber, dass die bürgerlichen Parteien endlich die gravierenden, und letztlich der öffentlichen Gesundheit abträglichen Auswirkungen der unsozialen Finanzierung des Schweizer Gesundheitswesen anerkennten und entsprechend mithälfen, diese an der Wurzel anzugehen. Die unmittelbar wirksamste Massnahme wäre eine Begrenzung der Prämienlast auf höchstens 10% des verfügbaren Einkommens eines Haushalts. Genau dies fordert die vom SGB mitgetragene Prämienentlastungsinitiative, welche demnächst in die parlamentarische Beratung kommen wird.